Netzwerkanalysen von prähistorischen Beziehungen mithilfe von archäologischen Rohmaterial-Funden und KI

Wer kennt wen? Wer hat welche Bedürfnisse und Wünsche? Die Antworten auf diese Fragen sind für die Werbewirtschaft heute sehr viel Geld wert. Mit Hilfe gewaltiger Datenmengen sowie künstlicher Intelligenz können Internetkonzerne sie immer präziser beantworten. Ähnliche Methoden, jedoch mit dem Ziel, die Netzwerke und Beziehungen ur- und frühgeschichtlicher Menschen besser zu verstehen, kommen im Projekt »Big Exchange« zum Einsatz, das ein Team von Archäologinnen und Archäologen aus sieben Ländern unter der Leitung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel in der Fachzeitschrift Antiquity präsentiert.

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Obsidian-Artefakte aus Kurdistan, Irak
Artefakte aus Obsidian, gefunden 2022 in Gird-i Dasht (Bezirk Soran, Autonome Region Kurdistan, Irak). Das Rohmaterial wurde einst mehrere hundert Kilometer entfernt abgebaut. Diese Verbindung ist wie eine Spur menschlicher Beziehungen. Foto: Tim Kerig

Die Archäologie findet im Boden keine direkten Abdrücke von Beziehungen, aber sie entdeckt Rohmaterialien wie Feuerstein, Obsidian, Jade, Elfenbein und verschiedene Metalle, die oft weite Strecken von ihren Quellen zum Fundort zurückgelegt haben. Diese Materialien dienen als Spuren vergangener Beziehungen zwischen Menschen und ermöglichen es uns, Netzwerke in der Vergangenheit zu untersuchen. Dr. Tim Kerig, Projektleiter und Archäologe im Exzellenzcluster ROOTS an der CAU Kiel, erklärt: »Mit Hilfe von Netzwerkanalysen und KI können wir die Beziehungen zwischen Menschen in der Vergangenheit besser verstehen.«

Frühere Analysen von Netzwerken basierten auf Rohmaterial-Funden und den zugehörigen Quellen und wurden seit etwa 50 Jahren in der Archäologie angewendet. Diese Studien haben wertvolle Erkenntnisse über die Vergangenheit geliefert, jedoch wurden sie aufgrund des hohen Aufwands und der Spezialisierung oft nur auf ein bestimmtes Rohmaterial beschränkt. Dr. Johanna Hilpert, Archäologin am Institut für Ur- und Frühgeschichte und Postdoc am Datencampus der CAU Kiel, erklärt: »Dank der Digitalisierung können wir jetzt komplexere Analysen durchführen, die mehrere Rohmaterialien gleichzeitig einbeziehen.« Das Projekt »Big Exchange« strebt an, für die Zeit von der Mittelsteinzeit bis in die Antike alle verfügbaren Rohmaterialien und deren Fund- und Herkunftsorte in die Auswertungen einzubeziehen. Dies ist nur mit Hilfe von Netzwerkanalyse und KI möglich.

Bislang wurden im Rahmen des Projekts über 6.000 Fundstellen von Westeuropa bis Mittelasien erfasst, die Millionen von Einzelfunden umfassen. Die Netzwerkanalysen ermöglichen Aussagen darüber, wie die gleichzeitige Verteilung verschiedener Güter mit dem Zugang der Menschen zu Rohmaterialien zusammenhängt. Dies betrifft auch grundlegende Fragen zur sozialen Ungleichheit und den Machtverhältnissen. Gleichzeitig ist das Projekt auch ein soziales Experiment. Dr. Kerig betont: »Wir wollen nicht nur prähistorische Netzwerke analysieren, sondern auch wissenschaftliche Netzwerke aufbauen und Archäologie mit Datenwissenschaft verknüpfen.« Daher sollen die Archäologinnen und Archäologen aktiv in die Analyse einbezogen werden, um ihre Expertise in die Auswertung der unterschiedlichen Datensätze einzubringen.

Die Autorinnen und Autoren des Artikels sehen ihre Veröffentlichung auch als Aufruf an Kolleginnen und Kollegen, sich an »Big Exchange« zu beteiligen und eigene Datensätze beizusteuern. Durch eine umfangreiche Beteiligung können die vergangenen Beziehungs- und Netzwerkdynamiken besser verstanden werden. Dr. Kerig fügt hinzu: »Bei einer systematischen Analyse der vorhandenen Daten werden wir vermutlich noch weitere überraschende Erkenntnisse gewinnen.«

Publikation

Tim Kerig et al.

Interlinking research: the Big Exchange project

Antiquity. 2023
DOI: 10.15184/aqy.2023.78
https://www.cambridge.org/core/journals/...