Bahnbrechende Studie zu frühem Hominiden

Dieser Fund schreibt Geschichte: Ardipithecus ramidus ist mit 4,4 Millionen Jahren der früheste bekannte Hominide, von dem die wichtigsten Skelettteile erhalten sind – und ergänzt die Geschichte der Hominidenentwicklung um ein wichtiges Kapitel.

Cover Science
Das aktuelle Cover des Science Magazine zeigt Teile des Skeletts von Ardipithecus ramidus (Science Magazine)

Die Ergebnisse der über 17 Jahre laufenden Fossilanalyse durch ein internationales Forscherteam unter der Leitung von Professor Tim White, Berkeley, USA, werden der Weltöffentlichkeit morgen als Sonderausgabe des Fachmagazins Science mit elf Publikationen präsentiert werden. Die Medien wurden heute vorab informiert in zwei Pressekonferenzen in den USA und in Afrika, wo Ardipithecus ramidus vor 17 Jahren in der äthiopischen Afar-Senke gefunden wurde. Ebenfalls an der Studie beteiligt war der Münchner Paläontologe Ioannis Giaourtsakis, ein Spezialist für prähistorische Großsäuger. Zusammen mit anderen Wissenschaftlern untersuchte er die zahlreichen Fossilfunde von Tieren, die wichtige Rückschlüsse auf die Umgebung des frühen Hominiden erlauben. Die Forscher konnten vor allem anhand der fossilen Zähne zeigen, dass sich Ardipithecus nicht im offenen Grasland aufhielt, sondern Lebensräume in geschlossenen Wäldern bevorzugte. „Ardipithecus war in erster Linie ein geschickter Kletterer", berichtet Giaourtsakis. „Auf dem Boden konnte sich der Hominide aber auch auf zwei Beinen bewegen." Die Bewegung auf zwei Beinen prägte bereits die Anatomie der Hominiden, bevor diese das Grasland als Habitat eroberten, wie etwa bei der jüngeren Hominidenart Australopithecus. (Sonderausgabe Science, 02. Oktober 2009).

Die Überreste der mindestens 36 Individuen von Ardipithecus ramidus sind 4,4 Millionen Jahre alt und repräsentieren den frühesten bekannten Hominiden, von dem ein Teilskelett erhalten ist. Diese Position belegte bislang Australopithecus, dessen bekanntestes Fossil die 3,2 Millionen Jahre alte „Lucy" ist. Ardipithecus ist älter als die Australopithecinen und liegt damit näher am gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Schimpanse. Diese Linien haben sich vor mindestens fünf Millionen Jahren aufgetrennt.

Die wichtigsten Fossilfunde der Ausgrabung in der äthiopischen Afar-Senke gehören zum Skelett eines Weibchen, das die Forscher „Ardi" nannten. Alle für eine anatomische Bestimmung wichtigen Knochen, etwa Schädel, Bezahnung, Hände, Hüfte, Beine und Füße sind erhalten. Weil die Stücke zum Teil schwer beschädigt waren, mussten innovative technische und analytische Methoden zur Untersuchung eingesetzt werden. Mit Hilfe von Computertomografie, Elektronenmikroskopie und anderen Verfahren konnten die Forscher unter anderem zeigen, dass Ardipithecus in der Anatomie deutlich primitiver als Australopithecus war. Unklar ist noch, ob sich Australopithecus direkt aus Ardipithecus oder parallel dazu entwickelte.

Neben den Hominidenfunden entdeckten die Forscher auch mehrere Tausend fossile Pflanzen- und Tierreste, wie zum Beispiel von Eulen, Papageien, diversen Kleinsäugern, Stachelschweinen, Hyänen, Bären, Elefanten, Urpferden, Giraffen, zwei Affenarten, Antilopen und Nashörnern. Auf die Evolutionsgeschichte von Nashörnern ist der LMU-Paläontologe Ioannis Giaourtsakis spezialisiert, der darüber derzeit an seiner Dissertation an der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie arbeitet. Einer seiner Schwerpunkte war die morphologische Bestimmung der fossilen Tierzähne, die dann bestimmten Arten zugeordnet und auch chemisch analysiert werden konnten – um Rückschlüsse auf die Diät zu ziehen.

Die fossilen Zähne der Großsäuger erwiesen sich hier als besonders wertvoll: Bei heute noch lebenden Arten ist die Art der Ernährung bekannt. Liefert die Zahnanalyse dieser Tiere und von Ardipithecus ähnliche Ergebnisse, kann auf eine ähnliche Diät geschlossen werden. Tatsächlich fand sich weitgehende Übereinstimmung zwischen dem Hominiden und den Tierarten, die sich vor allem von pflanzlicher Nahrung im Wald ernähren. „Wir konnten damit zeigen, dass das Habitat von Ardipithecus überwiegend mit Wald bedeckt gewesen sein muss", sagt Giaourtsakis. „Das benachbarte offene Grasland gehörte wohl nicht zum Habitat des Hominiden."

Das bedeutet auch, dass sich die Fortbewegung auf zwei Beinen nicht erst als Antwort auf ein Leben in der offenen Savanne entwickelte. Denn Ardipithecus ramidus konnte zumindest kurze Strecken auch schon auf zwei Beinen zurücklegen, lebte überwiegend aber in geschlossenen bewaldeten Habitaten. Er konnte entsprechend gut und effizient klettern: Beim Greifen und Festhalten half der opponierbare große Zeh, was wegen des relativ großen Körpergewichts auch nötig war – „Ardi" wird auf 50 Kilogramm geschätzt. Australopithecus lebte dagegen bereits ausschließlich auf dem Boden, bewegte sich auf zwei Beinen und konnte nicht besser klettern als der moderne Mensch.

Der Fund von Ardipithecus ramidus öffnet ein wichtiges Kapitel in der Evolution der Hominiden. Er wirft neues Licht auf die Entwicklung der Fortbewegung auf zwei Beinen und liefert weitere interessante Erkenntnisse zur Entwicklung der höheren Primaten. „Das Gebiss von Ardipithecus zeigte nämlich eine weitere Auffälligkeit", berichtet Giaourtsakis. „Die männlichen Primaten mit Ausnahme des Menschen tragen stark vergrößerte Eckzähne, mit denen sie drohen und angreifen. Die Eckzähne von Ardipithecus waren dagegen stark reduziert, was möglicherweise auf eine soziale Struktur ohne große Konflikte zwischen Männchen schließen lässt."

„Ardi" bedeutet in der Sprache der äthiopischen Afar „Boden", während „ramidus" für Wurzel steht. Damit steht der Name „Ardipithecus ramidus" für einen am Boden lebenden Hominiden an der Wurzel unserer Entwicklungslinie. Noch ist unklar, ob Ardipithecus ramidus ein direkter Vorfahr des modernen Menschen ist oder ein Nebenzweig der Hominidenlinie darstellt. Dennoch scheint es passend, dass die Millionen Jahre alten Funde in 17 langen Jahren von einer breit gefächerten Forschergruppe untersucht wurde: Hunderte von Menschen waren an der Ausgrabung in Äthiopien beteiligt, während 47 Forscher aus zehn Ländern die Millionen Jahre alten Funde wissenschaftlich aufbereiteten – um der Menschheit jetzt einen Blick in ihre eigene Geschichte zu präsentieren.

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Publikation:
Sonderausgabe Science, Vol 326; 02. Oktober 2009
Doi: 10.1126/Science.1175822

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