Die Vorteile des Reitens - ein Widerspruch?

veröffentlicht am

Als liebevoll gehegter Sport- und Freizeitpartner dient das Pferd heutzutage vor allem dem „Reiten“. Doch noch vor weniger als einhundert Jahren wurde es hauptsächlich wegen seiner Muskelkraft für den Betrieb von Pflug und Wagen genutzt. Reiten, das war in Friedenszeiten vor allem eine Angelegenheit der Oberschicht; einfache Bürger konnten allenfalls als Soldat oder als Bote zu Pferde sitzen.

Bereits in unserer jüngsten Vergangenheit deutet sich somit eine Trennung der Gesellschaft in sozial höherstehende Reiter und in sozial niederes „Fußvolk“ an. Aus der Sicht des Prähistorikers erklärt sich das mit den vielen Möglichkeiten, die die Nutzung des Pferdes als Reittier mit sich bringt. Wagen, Pflug, Schlitten und Schleife lassen sich auch durch andere Zugtiere, z.B. durch Ochsen bewegen – alleine das Reiten funktioniert einigermaßen vorteilhaft nur mit dem Pferd.

Was sind nun die Auswirkungen der Einführung von Reitpferden auf vorher unberittene Gesellschaften? In der Urgeschichte hat dieser Übergang wahrscheinlich im 3. Jt. v. Chr. stattgefunden – und aus den materiellen Hinterlassenschaften dieser rein archäologisch fassbaren Kulturen lassen sich soziale Implikationen nur schwer ableiten.

Aus völkerkundlichen Beobachtungen – insbesondere aus Nordamerika – kennen wir jedoch die Auswirkungen, die das „Reitpferd“ auf zuvor „unberittene Gesellschaften“ gehabt hat: Der Šunka Wakan – der „unbegreifliche Hund“, wie die Lakota das Huftier nannten – veränderte das Leben der Völker in den großen Grasebenen grundlegend:

(1) Zunächst wurde die Nahrungsversorgung ergiebiger und zuverlässiger; mit gut ausgebildeten Jagdpferden eroberten vielen Indianerstämme die bis dahin fast unbesiedelten Plains und Prärien und lebten fortan fast ausschließlich von der Büffeljagd.

(2) Die räumliche Mobilität erhöhte sich um ein Vielfaches: mit dem Pferd konnte die Entfernung zwischen den Wasserstellen überbrückt und das zugängliche Gebiet bis auf das Sechsfache vergrößert werden;

(3) Und mit speziell ausgebildeten Kriegspferden war man den sesshaften, unberittenen Nachbarn nun weit überlegen.

Sekundär hatten diese Veränderungen auf die „neuen Pferdebesitzer" weitere Folgen:

(1) Die Größe des Stammes konnte infolge der ergiebigeren Nahrungsversorgung bis um das Zehnfachen wachsen;

(2) Als Status- und Prestigeobjekt verursachte der Besitz von Pferden erhebliche soziale Unterschiede innerhalb der Gruppe – manche Krieger hielten hunderte von Tieren, oft auf Raubzügen erbeutet.

(3) Handel und Raub nahmen zu, als Folge entstanden neue Gemeinschaftsformen: Bei den Ute und Shoshonen entwickelte sich auf diese Weise ein erbliches Kriegerhäuptlingstum.

(4) Konflikte um den Besitz von Land und Ressourcen waren die Folge: Manche Plains-Indianer führten Kriege nur um Pferde zu erbeuten;

(5) Durch kriegerisches Geschick konnten Einzelne ihren Sozialstatus innerhalb der Gruppe steigern.

Auch für den prähistorischen Menschen sollten die Vorteile des Reitens aus heutiger Sicht – gerade bei den Primärfolgen – naheliegen: Reiten hilft Hunger zu verhindern; Reiten erschließt den umgebenden geographischen Raum und seine Ressourcen; Reiten sorgt für militärische Stärke und damit für mehr Sicherheit..... – und dennoch scheint das Pferd in der europäischen Vorgeschichte nach seiner Domestikation nicht zum Reiten verwendet worden zu sein !

Antike Quellen aus dem 2. Jahrtausend v.Chr. berichten vom Reiten nur in außergewöhnlichen Situationen. Nach Homer war der Gebrauch des Pferdes als Reittier zwar bekannt, offensichtlich aber nicht standesgemäß: der heldische Reiterkrieger fehlt ebenso wie die reitende Gottheit. Statussymbol war nicht das „Reiten“, sondern vielmehr das „Fahren“ – Könige und Adelige fuhren im Streitwagen auf die Jagd oder in den Krieg. Erst Jahrhunderte später führte die militärische Überlegenheit der antiken Reiterei zum Untergang der Streitwagen als Kriegswaffe.

Für Mitteleuropa zeigen die archäologischen Quellen ein ähnliches Bild wie für Griechenland und den Vorderen Orient: Aus der Bronzezeit ( 2. Jahrtausend v.Chr.) kennen wir zahlreiche Pferd- und Wagendarstellungen – aber keine einzige eines Reiters; erst mit der Eisenzeit ab ca. 800 v.Chr. finden sich auch in unseren Breiten Bilder von Reitern.

Aber wenn das Pferd im dritten Jahrtausend v.Chr. domestiziert wurde, und spätestens im zweiten Jahrtausend das Hauspferd in ganz Europa verbreitet war, und das Reiten den prähistorischen Kulturen zum großen Vorteil gereicht hätte, warum wurde dann erst im ersten Jahrtausend regelmäßig geritten? Eine Frage, auf die wir immer noch eine Antwort suchen !