Verschollene Literatur unter Vesuvasche

Der Würzburger Altphilologe Dr. Kilian Fleischer entziffert 2.000 Jahre alte griechische Texte. Das Problem: Die Schriftrollen sind beim Vesuvausbruch vollständig in Kohle verwandelt worden. Modernste Technik hilft ihm beim Lesen.

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Typisches Beispiel eines Bruchstücks der Papyrusrolle, aufgezogen auf Karton
Typisches Beispiel eines Bruchstücks der Papyrusrolle, aufgezogen auf Karton. (Bild: Kilian Fleischer)

"Es ist ein gigantisches Kreuzworträtsel" – "Es gleicht dem Versuch, ein verbranntes Stück Blätterteigrolle möglichst ohne Beschädigung wieder zu entrollen" – "Es ist äußerst aufwendig und mühsam, aber die neu gewonnenen Erkenntnisse entschädigen für alles". Wenn der Klassische Philologe Dr. Kilian Fleischer enthusiastisch von seiner Forschung erzählt, weiß man nicht, ob man ihn bedauern oder beneiden soll. Wer kein Freund davon ist, stundenlang nach dem passenden Puzzleteil zu suchen, wird zu Ersterem tendieren. Wen die Lösung eines Rätsels nach Tagen oder Wochen der Suche glücklich macht, zu Letzterem.

Fleischer leitet seit 2019 an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) das auf drei Jahre angelegte DFG-Forschungsprojekt "Philodems Geschichte der Akademie (Index Academicorum)". Dass es dieses Projekt gibt, ist einem schier unglaublichen Zufall zu verdanken, der sich vor fast 2.000 Jahren in Italien zugetragen hat – genauer gesagt im Jahr 79 nach Christi Geburt.

"Damals stand in Herculaneum die Villa von Lucius Calpurnius Piso Caesonius, einem römischen Politiker und Schwiegervater Julius Caesars“, berichtet Fleischer. Caesonius muss ein philosophisch interessierter Mensch gewesen sein. Immerhin war er eine Art Mäzen des griechischen Philosophen Philodem von Gadara und ließ Philodem in seiner Villa leben und arbeiten. Dafür hatte Philodem seine umfangreiche Bibliothek aus Griechenland mitgebracht, die etwa 1.000 Buchrollen in griechischer Sprache enthielt.

Als im Jahr 79 der Vesuv ausbrach, wurde Herculaneum von den Ausläufern mehrerer pyroklastischer Ströme getroffen. Dichte und extrem heiße Wellen aus Asche, Gas und Gestein rasten über die Stadt und deren Bewohner hinweg und begruben sie meterdick unter sich. Erst im frühen 18. Jahrhundert sollte die Stadt wiederentdeckt werden. Bei den Ausgrabungen stießen die Archäologen auch auf jene Villa – und auf Philodems Bibliothek.

Dass sie es mit aufgerollten Papyri zu tun hatten, war den Arbeitern damals allerdings nicht bewusst. "Sie hatten die zu Klumpen verbackenen Rollen zunächst für Kohlebriketts oder Wurzeln gehalten", sagt Kilian Fleischer. Erst als ein solcher Klumpen herunterfiel und zerbrach, entdeckte man auf den Bruchstücken Schriftzeichen und begann, sie genauer zu untersuchen.

Aber wie kann es möglich sein, dass sich Texte heute lesen lassen, die auf Papyrus, einem pflanzlichen Trägermaterial, geschrieben wurden, die heißen Asche- und Gasströmen ausgesetzt waren und die dann 1.700 Jahre unter Gesteinsmassen lagen? "Das hat etwas mit der Lage der Villa zu tun", sagt Kilian Fleischer. Nur an dieser Stelle waren die Temperaturen nach dem Vesuvausbruch exakt so, dass die Buchrollen karbonisierten und nicht direkt verbrannten. "Ein paar Straßen weiter vorne oder weiter hinten wären sie vermutlich auf alle Zeit verloren gewesen", erklärt er.

Gut zwei Drittel der insgesamt 1.000 Rollen sind in den vergangenen 200 Jahren seit ihrer Entdeckung wieder entrollt worden – natürlich nie am Stück, sondern immer mit vielen Lücken, Löchern, Verklebungen. Gut 5.000 dieser Bruchstücke befinden sich fein säuberlich gerahmt in Neapel in der Biblioteca Nazionale – mal mehr, mal weniger gut erschlossen. Und für genau eine dieser Rollen interessiert sich Kilian Fleischer. Seit gut zwei Jahren arbeitet er daran, ihren Text zu entziffern, zu übersetzen und mit dem derzeitigen Wissen über die Antike zu vergleichen. Neben Köln ist Würzburg die einzige deutsche Universität, wo an Herkulanischen Papyri geforscht wird, unter anderem am Würzburger Zentrum für Epikureismusforschung.

"Bei dieser Rolle handelt es sich um einen Band eines insgesamt zehnbändigen Werks, das Philodem über die Geschichte der Philosophie verfasst hat", sagt Fleischer. Der sogenannte "Index Academicorum" stellt Platon und die von ihm gegründete Akademie in den Mittelpunkt und schildert deren Geschichte vom Beginn bis zur Zeit Philodems. Noch ein weiterer Aspekt macht den Papyrus für den Altphilologen so interessant: Es handelt sich dabei um ein echtes Autorenmanuskript, eine vorläufige Arbeitsfassung beziehungsweise Projektskizze Philodems.

Dementsprechend finden sich neben und unter dem Text, der in vertikalen Kolumnen angeordnet ist, aber auch auf der Rückseite zahlreiche handschriftliche Anmerkungen und Änderungsvorschläge Philodems. "Der Papyrus gewährt uns somit wertvolle Einblicke in den Entstehungsprozess eines antiken Buches und in die Arbeitsweise antiker Autoren", sagt Fleischer. Sogar der Vergleich mit der Endfassung ist möglich – zumindest mit den wenigen Überresten, die davon erhalten geblieben sind.

Modernste Technik kommt zum Einsatz, damit Kilian Fleischer die verkohlten Papyrusreste studieren kann – schließlich ist es nicht ganz einfach, auf den schwarzen Bruchstücken zu erkennen was ein Tintenstrich ist, was eine Papyrusfaser, was ein Knick. Multispektrale Bildgebungsverfahren (MSI) können die Entscheidung erleichtern: Sie steigern den Kontrast von Tinte und Papyrus und machen es damit möglich, den Text deutlich besser zu sehen, als dies bislang möglich war. Noch ergiebiger sind Hyperspektralbilder (HSI), welche Fleischer in Neapel mit Physikern und Informatikern erstmals von Herkulanischen Papyri erstellte. Sogar ein Blick auf die Rückseite von Papyrusstücken, die auf Papptafeln aufgezogen wurden, ist damit möglich.

Es war erst die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Philologen und Naturwissenschaftlern, welche in den vergangenen Jahren diese enormen Fortschritte ermöglicht hat. Dementsprechend froh ist Fleischer über die Tatsache, dass sich an der Universität jetzt das Zentrum für Philologie und Digitalität (Kallimachos) im Aufbau befindet, in dem ebenfalls Geisteswissenschaften, Informatik und Naturwissenschaften zusammenkommen.

"Mit Hilfe dieser Techniken ist es mir gelungen, etwa 30 Prozent mehr Text im Vergleich zur Vorgängeredition zu entschlüsseln", sagt Fleischer. Ein neuer Buchstabe könne dabei im Idealfall in einer Art Dominoeffekt zu ganz neuen Erkenntnisse führen – wenn sich aus dem Buchstaben ein neues Wort erschließen lässt und daraus möglicherweise ein komplett neuer Satz, der bisweilen sogar bisher unbekannte Informationen zu Platon und den Philosophen der Akademie preisgibt, oder zu einem Krieg, von dem vorher noch kein Altertumswissenschaftler gehört hatte. Viele Einträge in den Nachschlagewerken zur Antike müssen neu geschrieben werden, wenn die Arbeit am Index Academicorum und anderen Papyrusrollen aus Herculaneum beendet ist.

Stunden-, bisweilen tagelang grübelt Kilian Fleischer über diesen winzigen verkohlten Textfragmenten – und das seit mehr als zwei Jahren. Warum tut er sich das an? "Ich finde, die Wiederentdeckung von Literatur, die gut 2.000 Jahre lang als verschollen galt, ist eines der spannendsten Felder in der Klassischen Philologie", sagt er. Seine Arbeit liefere im Erfolgsfall die Grundlage für weitergehende Forschung und präsentiere Lösungen für Probleme, die zum Teil Jahrhunderte lang diskutiert wurden.

Angst, dass ihm der "Lesestoff" in nächster Zeit ausgehen könnte, muss Kilian Fleischer nicht haben. Von den gut 1.000 Papyrusrollen, die man aus der Villa dei Papiri in Herculaneum geborgen hat, sind mehr als 300 noch nicht entrollt. Ihnen bleibt der zerstörerische Akt des Entrollens vielleicht sogar erspart. Stattdessen könnten die Rollen Schicht für Schicht durchleuchtet und ausgelesen – quasi virtuell "entblättert" werden. Bislang steckt diese Technik – das virtual unrolling – allerdings noch in den Anfängen, auch wenn sie an einem anderen Trägermaterial bereits bewiesen hat, dass sie funktioniert. Und, wer weiß: Vielleicht entschließt sich Italien ja doch noch zu weiteren Ausgrabungen in Herculaneum. Wissenschaftler vermuten, dass in anderen Räumen der Villa dei Papiri weitere literarische Schätze verborgen sind.

Auf einem Hyperspektralbild wieder des gleichen Bogens sind die Buchstaben noch mal besser und an vielen Stellen überhaupt erst zu lesen
Auf einem Hyperspektralbild wieder des gleichen Bogens sind die Buchstaben noch mal besser und an vielen Stellen überhaupt erst zu lesen. Diese Technik verbindet Infrarot- Digitalfotografie mit einem statistischen Algorithmus. (Bild: Foto mit freundlicher Genehmigung des Ministero per i Beni e le Attività Culturali, Biblioteca Nazionale Vittorio Emanuele III, Napoli, Consiglio Nazionale delle Ricerche)
So könnte die Villa dei Papiri vor ihrer Zerstörung ausgesehen haben
So könnte die Villa dei Papiri in Herculaneum vor ihrer Zerstörung ausgesehen haben. (Bild: Museo Archeologico Virtuale)