Vermehrte Niederschläge und die Wasserwunder italienischer Heiliger

Neue Studie untersucht die kulturellen Auswirkungen von Klimaveränderungen im 1. Jahrtausend unserer Zeitrechnung in Italien

Die Analyse historischer Berichte in Verbindung mit der Untersuchung eines Stalagmiten in einer toskanischen Höhle durch ein internationales, multidisziplinäres Team zeigt, dass als Reaktion auf starke Regenfälle und Überflutungen im 6. Jahrhundert unserer Zeitrechnung eine neue Art von Wundern in den italienischen Heiligengeschichten auftauchte: die Macht der Heiligen über das Element Wasser.

Nachrichten durchblättern
St. Fredianus
St. Fredianus lenkt den Fluss Serchio in ein neues Flussbett, so dass die Stadt Lucca nicht länger von Überschwemmungen bedroht ist. © Filippo Lippi, Public domain, via Wikimedia Commons

Berichte über extreme Wetterereignisse, die auf Klimaveränderungen hindeuten könnten, werden in der Geschichtsforschung bislang eher mit Argwohn betrachtet. Denn, so die Befürchtung, zu viele rein kulturelle Faktoren könnten der Auslöser für die Berichte über extreme Regenfälle, Dürren oder Überflutungen gewesen sein. In einer neuen Studie ist es nun einem internationalen, multidisziplinären Forschungsteam gelungen, Daten über vermehrte Niederschläge in Nord- und Mittelitalien während des 6. Jahrhunderts unser Zeitrechnung mit Berichten über das Leben und die Wunder von Heiligen in dieser Zeit zu verknüpfen. Die Studie integriert erfolgreich Paläoklima-Proxies mit historischen Aufzeichnungen und ist ein Beispiel dafür, wie interdisziplinäre Studien ein besseres Verständnis von den Auswirkungen des Klimas auf frühere Gesellschaften ermöglichen können.

Um Daten über die historischen Klimabedingungen zu erhalten, untersuchte das Team einen Stalagmiten aus der Renella-Höhle in der nördlichen Toskana. Ähnlich wie Baumringe geben die Mineralschichten von Stalagmiten, die sich über die Jahrhunderte ablagern, Aufschluss über die jeweiligen klimatischen Verhältnisse. Indem die Forschenden das Verhältnis der Sauerstoffisotope in den aufeinanderfolgenden Schichten des Stalagmiten bestimmten, konnten sie zwischen Feucht- und Trockenperioden unterscheiden, welche sie mit Hilfe der Uran-Thorium-Datierung datierten (eine Methode, die der bekannteren Radiokarbonmethode ähnelt). Dabei zeigte sich, dass sich das 6. Jh. u. Z. in Nord- und Zentralitalien durch ein deutlich höheres Level an Feuchtigkeit von anderen Perioden unterschied.

Eine wahrscheinliche Ursache dafür ist eine langanhaltende, negative Phase der nordatlantischen Oszillation, welche aufgrund eines niedrigeren Atmosphärendrucks, vermehrt feuchte Luft nach Nord- und Mittelitalien brachte. Da das Wasser des Nordatlantiks eine höhere Konzentration an leichteren Sauerstoffisotopen aufweist als der durchschnittliche Niederschlag in Norditalien, haben die negativen nordatlantischen Oszillationen des 6. Jh. und die damit verbundenen Niederschläge in Italien eine »verräterische« isotopische Spur in den Schichten des untersuchten Stalagmiten hinterlassen.

Ungewöhnliche Phänomene in italienischen Texten

Mit diesen Daten wandte sich das Forschungsteam den historischen Aufzeichnungen zu. Mit Hilfe der The Cult of Saints in Antiquity Database konnte das Team auf mehr antike und mittelalterliche Texte zugreifen und sie analysieren, als das bisher möglich war. So konnten sie die italienischen Schriften des sechsten Jahrhunderts mit der Gesamtheit der spätantiken und frühmittelalterlichen hagiographischen Texte, d. h. Geschichten über Heilige, vergleichen und deren besonderen Merkmale zu identifizieren.

Berichte aus dem 6. Jh. von der Apenninen-Halbinsel, insbesondere die Dialogi de vita et miraculis patrum Italicorum [Gespräche über das Leben und die Wunder der italienischen Kirchenväter], die Papst Gregor dem Großen zugeschrieben werden, enthalten viele Beschreibungen sogenannter Wasserwunder, bei denen Heilige starke Regenfälle, Stürme und Fluten hervorrufen und beenden konnten. In hagiographischen Texten aus früheren und späteren Perioden, sowie in Schriften von Gregor von Tours, eine zeitgenössische Quelle die Ereignisse auf dem Gebiet des heutigen Frankreichs beschreibt, wird hingegen kaum von Wasserwundern berichtet. In den Dialogues machen sie bis zu 20 Prozent aller beschriebenen Wunder aus, was diese Wunder zu einem einzigartigen Merkmal macht.

Die Wissenschaftler/-innen interpretieren das plötzliche Auftreten dieser Berichte als Indiz für ein besonderes Interesse an hydroklimatischen Ereignissen. Den Grund dafür sehen sie im Klimawandel der damaligen Zeit, welcher sich insbesondere durch verstärkten Regenfall und Überschwemmungen manifestierte.

»Literarische Quellen, und insbesondere solche über Heilige, sollten nicht unbedingt als direkte Beweise für historische Ereignisse betrachtet werden,« erklärt Robert Wiśniewski, Spezialist für Hagiographie an der Universität Warschau und Koautor der Studie. »Dennoch reflektieren sie die Weltsicht der kirchlichen Schreiber und die Grundlage für deren Interpretation von außergewöhnlichen Wetterphänomenen.«

»In dieser Studie konnten Expertinnen und Experten in Geochemie, Geologie und Klimaforschung eine klimatische Veränderung nachweisen, die in den historischen Schriften nur angedeutet wurde. Doch im 6. Jahrhundert wurde zumindest ein Teil Italiens tatsächlich Opfer von sintflutartigen Regenfällen und Überflutungen,« fügt Giovanni Zanchetta, Professor für Geologie an der Universität Pisa und Hauptautor der Studie, hinzu.

Klima im Wandel, Kultur im Wandel

Dass jedoch insbesondere hydrologische und klimatische Ereignisse in italienischen Schriften des 6. Jh. erwähnt werden, weist darauf hin, dass diese Ereignisse eine Rolle im soziokulturellen Wandel spielten, den die Geschichtsforschung seit langem erkannt hat. Darunter zählen Veränderungen wie die Übernahme lokaler Machtpositionen durch Bischöfe am Ende des 6. Jh. und die Entwicklung eines Heiligenkults, verbunden mit dem Glauben an die Macht der Heiligen über Krankheiten, Menschen und die Natur.

»Zusätzlich zu klimatischen Veränderungen, erlebte das späte römische Italien zahlreiche ‚barbarische« Invasionen - aber diese schwierigen Erfahrungen führten nicht zum Zusammenbruch der damaligen Gesellschaft. Im Gegenteil, es scheint, dass der Klimawandel sogar dazu beigetragen hat, ihren inneren Zusammenhalt in einem dramatischen historischen Moment zu stärken«, sagt Kevin Bloomfield, Historiker für römische Geschichte an der Cornell University und Koautor der Studie.

Klimatische Phänomene werden in der Wissenschaft zunehmend als wichtige Faktoren für die Geschwindigkeit und das Ausmaß sozialer und kultureller Veränderungen anerkannt. Ein »hybrider« Ansatz zur Untersuchung der Auswirkungen von Klimaveränderungen auf historische Gesellschaften, welcher naturwissenschaftliche und historische Daten integriert, hilft, zu simple, und oftmals »katastrophale«, Interpretationen zu vermeiden. »Unser Ansatz zeigt, wie vielfältig und unvorhersehbar die Antworten einer modernen Gesellschaft auf Klimaveränderungen und Naturkatastrophen sein können,« unterstreicht abschließend Adam Izdebski, korrespondierender Autor und Leiter der unabhängigen Max-Planck-Forschungsgruppe Palaeo-Science and History am Jenaer Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte.

Publikation

Giovanni Zanchetta, Monica Bini, Kevin Bloomfield, Adam Izdebski et al.

Beyond one-way determinism: San Frediano’s Miracle and Climate Change in Central and Northern Italy in Late Antiquity

Climatic Change. 20.03.2021
DOI: 10.1007/s10584-021-03043-x
https://link.springer.com/article/10.100...

Grafik Klimatische und soziokulturelle Phänomene
Eine schematische Zeichnung des Zusammenspiels von klimatischen und soziokulturellen Phänomenen im Italien des sechsten Jahrhunderts. Grafik: © Zanchetta et al., 2021