Migration und Mobilität der "frühen modernen Menschen"

Wie die ersten modernen Menschen Eurasien erreichten

Neue Forschungsergebnisse zeigen wie divers unsere direkten Vorfahren waren und führen zu neuen Erkenntnissen, wie diese von Afrika nach Eurasien ausgewandert sein könnten. Der Anthropologe Gerhard Weber von der Universität Wien publiziert dazu gemeinsam mit seinem "Virtual Anthropology Team" in den Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS).

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Die ForscherInnen fanden heraus, dass unsere direkten Vorfahren - "frühe moderne Menschen" - die variabelste Gruppe aller Menschen waren, die innerhalb der letzten 1,8 Millionen Jahre lebte. Der "frühe moderne Mensch" tauchte in der Zeit des Spät-Pleistozäns vor 200.000 - 100.000 Jahren in Afrika auf.

Gerhard Weber und seine KollegInnen verglichen die fossilen Schädel der "frühen modernen Menschen" mit denen von heutigen Menschen, Neandertalern, der Gruppe des Homo erectus und anderen. Die Ergebnisse zeigen, dass die größte Variabilität der Schädelform bei "frühen modernen Menschen" auftritt. Deren Schädel sind zudem jenen von heute lebenden Menschen aus verschiedenen geographischen Verbreitungsgebieten am ähnlichsten. Bei Neandertalern und anderen archaischen Gruppen konnte diese Ähnlichkeit zum modernen Menschen nicht gefunden werden. Dies legt nahe, dass mehr als eine Population "früher moderner Menschen" aus Afrika die Gründerpopulation der heutigen Menschen sein könnte. "Anstatt einer einzelnen Auswanderungswelle aus Afrika nach Westasien" sagt Weber, "glauben wir, dass mehrere überlagernde Migrationswellen stattfanden. 'Frühe moderne Menschen' lebten in zahlreichen, zeitweise voneinander isolierten Populationen, bevor sie nach Eurasien einwanderten, und möglicherweise auch wieder zurückkehrten. Es ist wahrscheinlich, dass sie mehr als eine Route nahmen, zum Beispiel auch über die Straße von Gibraltar, die in Sichtweite von Europa liegt."

Die Resultate sind für die Debatte über die Entstehung der modernen Menschen und für die damit verbundene populationsgenetische Forschung von großer Bedeutung. Anstatt von einem einzelnen Auswanderungsereignis aus Afrika auszugehen, schlägt die Studie ein viel dynamischeres Szenario vor. Damit stellt sich auch die Frage, welche Bedingungen den "frühen modernen Menschen" eine solche Dynamik ermöglichten. "Schnellere und weiterreichende Auswanderungsbewegungen fördern den genetischen Austausch. Wir nehmen deshalb an, dass eine erhöhte Mobilität der Populationen ein wesentlicher Faktor für diese große Gestaltvariabilität der Schädel sein könnte", folgert der Anthropologe Gerhard Weber.

Weil keine genetischen Daten aus der Zeit der "frühen modernen Menschen" existiert, ist die Morphologie der einzig mögliche Zugang für die Forschung. Das Team wendete virtuelle Rekonstruktionstechniken für die teilweise unvollständigen fossilen Schädel an. Darüber hinaus kamen aufwändige mathematische Methoden zum Einsatz, um die fast 500 Messpunkte von jedem der 200 Schädel im Computer miteinander zu vergleichen. "So eine komplexe Analyse ist nur mit numerischen Methoden machbar", erklärt Philipp Gunz, der die Berechnungen durchführte.

Gerhard Weber's Arbeitsgruppe "Virtual Anthropology" an der Universität Wien ist eines der wenigen Zentren weltweit, an denen solche Rekonstruktionen von Fossilien gemacht werden können. Nachdem die Fossilien mit Hilfe der Computertomographie eingescannt werden, stehen sie als digitale Kopien für weitere Messungen zur Verfügung. Weber leitet das größte Anthropologie-Netzwerk in Europa (European Virtual Anthropology Network - EVAN), das von der EU gefördert wird. Das Netzwerk hat zum Ziel, diese Art der Technologie weiter zu verbreiten und junge WissenschafterInnen auszubilden. Einige Abgänger der Universität Wien bekamen bereits andernorts Forschungsstellen, darunter das Max Planck Institut für Evolutionäre Anthropologie und das Konrad Lorenz Institut für Evolution und Kognitionsforschung. Die Anwendungen der Virtuellen Anthropologie reichen mittlerweile auch in den medizinischen Sektor, wo Diagnoseverfahren und die Planung von Implantaten dieselben Methoden nutzen, wie sie für die Erforschung von Fossilien verwendet werden.