Mit dem ersten mobilen Computertomographen der Welt verborgene Texte entschlüsseln

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Exzellenzclusters »Understanding Written Artefacts« der Universität Hamburg und des Deutschen Elektronen-Synchrotrons haben einen weltweit einmaligen mobilen Computertomographen entwickelt. Mit seiner Hilfe können sie erstmals 4.000 Jahre alte versiegelte Keilschrifttafeln aus Mesopotamien lesen.

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Keilschrifttafel in transportablem Röntgengerät
Geheimer Inhalt: Viele Keilschrifttafeln aus der Antike stecken bis heute in intakten Tonumschlägen. Mithilfe eines neuen, transportablen Röntgengeräts können Forschende die verborgene Schrift im Inneren nun lesbar machen. Bild: UHH/K.Helmholz

Keilschrifttafeln aus dem antiken Mesopotamien in Vorderasien sind die ältesten Schriftartefakte der Welt. Um die darauf festgehaltenen Informationen vor unbefugten Blicken zu schützen, begann man im 3. Jahrtausend v. Chr., diese Tafeln in Umschläge aus Ton zu stecken. Einige davon wurden nie geöffnet, zum Beispiel, wenn ein Schreiben sein Ziel nicht erreichte – mit der Folge, dass heute rund um den Globus versiegelte Keilschrifttafeln mit unbekanntem Inhalt in Museen und Archiven lagern.

Nun haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Exzellenzclusters »Understanding Written Artefacts« (UWA) der Universität Hamburg und des Deutschen Elektronen-Synchrotrons (DESY) den ersten mobilen Computertomographen der Welt entwickelt, mit dem die versiegelten Tafeln gelesen werden können. ENCI (»Extracting non-destructively cuneiform inscriptions«) erschließt damit für die Altertumsforschung eine Fülle bisher unzugänglicher Quellen.     

»Forschende, die sich wie ich mit der Geschichte Mesopotamiens beschäftigen, hat es immer frustriert, dass es so viele Keilschrifttafeln gibt, die sich über Jahrtausende erhalten haben und die wir trotzdem nicht lesen können«, sagt Prof. Dr. Cécile Michel, eine der Leiterinnen des Projekts. Die Assyriologin ist Professorin am Centre national de la recherche scientifique in Paris und Mitglied des Exzellenzclusters UWA. »Durch persönliche Briefe gewinnen wir neue Einblicke in den Alltag und die Lebensumstände der Menschen damals. Bei Verträgen wurden die wichtigsten Inhalte oft außen auf dem Umschlag zusammengefasst, sodass wir bereits etwas über die Texte im Inneren wissen. Doch auch hier stellen sich noch viele Fragen: Welche Informationen wurden auf den Umschlag übertragen, welche ausgelassen? Wo weicht der äußere vom inneren Text ab und weshalb?«

Mithilfe von Röntgenstrahlung bildet ENCI die Keilschrifttafel und ihren Umschlag in vielen einzelnen Schichten ab. Am Computer zeigt sich der leere Raum zwischen der Schrifttafel und dem Umschlag auf jedem Einzelbild. Werden die Bilder zusammengesetzt, wird die Oberfläche der Keilschrifttafel im Inneren des Umschlags sichtbar – mitsamt der Schriftzeichen darauf.

»Tomographen mit der benötigten Strahlungsintensität sind normalerweise mehrere Tonnen schwer«, erklärt Prof. Dr. Christian Schroer, Arbeitsgruppenleiter am Institut für Nanostruktur- und Festkörperphysik an der Universität Hamburg, der ENCI federführend entwickelt hat. »Für uns war aber entscheidend, dass unser Gerät mobil ist, weil kaum ein Museum seine Sammlung auf Reisen schickt. ENCI wiegt nur etwas über 400 Kilogramm. Die größte Herausforderung bestand darin, diese Leichtbauweise mit dem erforderlichen Strahlenschutz zu verbinden.«  

Seinen ersten Einsatz hat ENCI im größten Museum der Welt

Vom 1. bis 9. Februar 2024 untersuchen UWA- und DESY-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler damit Keilschrifttafeln aus dem Louvre in Paris. Mit rund 12.000 Tafeln verfügt das Museum über eine der wichtigsten Sammlungen von Keilschrifttafeln weltweit. Die Untersuchungen werden zunächst an zwölf ausgewählten Tafeln durchgeführt. Die meisten von ihnen stammen aus der antiken Stadt Ur im heutigen Irak.

»ENCI illustriert im besonderen Maße, wie die interdisziplinäre Forschung des Exzellenzclusters ‚Understanding Written Artefacts« ganz neue Perspektiven auf das schriftliche Kulturerbe eröffnet. Wer hätte gedacht, dass die Zusammenarbeit zwischen Assyriologie und Röntgenphysik eine solche Dynamik entwickeln wird?«, sagt Prof. Dr. Konrad Hirschler, Sprecher des Exzellenzclusters UWA. Dort entwickeln seit 2019 rund 150 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 40 Disziplinen eine globale Perspektive auf Schriftartefakte aus allen Kulturen und Epochen, von der antiken Inschrift bis zum heutigen Notizbuch.