»Römerdorf« in Gernsheim ausgegraben

Auf den Fundamenten des im letzten Jahr bei Gernsheim entdeckten Römerkastells entstand nach dem Abzug der Legionäre eine Siedlung. Den Nachweis dafür konnten Studierende der Universität Frankfurt bei der aktuellen Lehrgrabung im Hessischen Ried erbringen.

Spielstein und Würfel aus Bein. Der Würfel entspricht genau den noch heute gängigen Modellen. Foto: Thomas Maurer

Vermutet hatten die Frankfurter Uni-Archäologen schon bei ihrer ersten Gernsheimer Grabung im vergangenen Jahr, dass dort im Hessischen Ried auch eine kleine römische Siedlung bestanden haben muss. Jetzt stießen sie auf eindeutige Relikte eines Römerdorfs, das nach dem Abzug der Soldaten, dort teilweise auf den Fundamenten des Kastells entstanden war. Das dürfte um 120 n. Chr. gewesen sein, damals wurde die Kohorte (etwa 500 Soldaten) vom Rhein an den Limes verlegt und bis etwa 260 n. Chr. begann mit der Zeit der »Pax Romana« eine friedliche Phase in dem Römerdorf, das zur römischen Provinz Obergermaniens gehörte.

Über das römische Gernsheim war bis vor einem Jahr wenig bekannt, obwohl hier seit dem 19. Jahrhundert immer wieder römische Funde zutage treten. »Jetzt wissen wir, dass hier vom 1. bis 3. Jahrhundert eine bedeutende dorfartige Siedlung, ein ‚vicus‘, gelegen haben muss, vergleichbar etwa mit ähnlichen Dörfern, die bereits in Groß-Gerau, Dieburg oder Ladenburg nachgewiesen werden konnten«, erläutert Grabungsleiter Dr. Thomas Maurer von der Goethe-Universität, der seit Jahren von Frankfurt aus nach Südhessen auf Spurensuche geht und seine Ergebnisse in einer großen Publikation über das nördliche Hessische Ried in der römischen Kaiserzeit veröffentlich hat.

Bei der zweiten Grabungskampagne, die am 3. August begann und noch bis Anfang Oktober läuft, haben die 20 Studierende des Faches »Archäologie und Geschichte der römischen Provinzen« unter Maurers Leitung bereits das gut erhaltene Fundament eines Steingebäudes, Feuerstellen und mindestens zwei Brunnen sowie Kellergruben freigelegt. Darüber hinaus haben sie noch Kisten mit Scherben von Fein-, Grob- und Transportkeramik angefüllt, mit deren Hilfe sich dann im weiteren Verlauf der wissenschaftlichen Untersuchungen genaue Zeitangaben über das Kastell und das Dorf machen lassen. »Wir sind auch auf wirkliche Kleinodien gestoßen wie seltene Gewandspangen, mehrere Perlen, Teile eines Brettspiels (Würfel, Spielstein) oder eine Haarnadel aus Bein, bekrönt mit einer weiblichen Büste«, freut sich Maurer.

Die Menschen, die sich im Kastelldorf ansiedelten, waren überwiegend Angehörige der Soldaten und Gewerbetreibende, die von der Kaufkraft des Militärs profitierten. »Als die Truppe abzog, kam es wahrscheinlich zu einem temporären Niedergang – das wissen wir von besser erforschten Plätzen«, ergänzt Maurer. Bereits im 2. Jahrhundert wurden im »Römerdorf Gernsheim« jedoch Steingebäude errichtet, die dafür sprechen, dass die Siedlung prosperierte. Die Bevölkerung dürfte überwiegend gallisch-germanischen Ursprungs gewesen sein, vielleicht mischten sich darunter auch ein paar »echte« Römer, also Personen mit römischem Bürgerrecht und Zugezogene aus fernen Provinzen. Diese geben sich anhand bestimmter archäologischer Funde zu erkennen, besonders den Bestandteilen von Trachten, aber auch Münzen. So liegt als Altfund aus Gernsheim eine Münze aus Bithynien (Nordwest-Anatolien) vor, die sicher nicht zum Münzumlauf Obergermaniens gehörte, sondern als Mitbringsel anzusehen ist.

Zwischen 70/80 und 110/120 n. Chr. war in diesem Areal eine Truppeneinheit mit etwa 500 Soldaten (Kohorte) stationiert. Nachgewiesen wurden im vergangenen Jahr zwei für entsprechende Kastelle typische Spitzgräben sowie weitere Befunde, die bereits aus der Zeit nach der Auflassung des Kastells stammten. Ungewöhnlich zahlreich sind die Funde. Denn die römische Truppe legte bei ihrem Abzug das Kastell nieder und verfüllte die Gräben. Dabei wurde vor allem im inneren Spitzgraben viel Abfall entsorgt – »ein Glücksfall für uns« – so Prof. Dr. Hans-Markus von Kaenel vom Institut für Archäologische Wissenschaften der Goethe-Universität, der seit 2014 pensioniert ist. Fast 20 Jahre hat sich von Kaenel zusammen mit seinen Mitarbeitern und Studierenden im Rahmen von Surveys, Ausgrabungen, Materialaufarbeitungen und Auswertungen mit dem römischen Südhessen beschäftigt; die Ergebnisse sind in über 50 Beiträgen publiziert worden.

Das Kastell mit der Siedlung war errichtet worden, um in den 70er Jahren des 1. Jahrhundert n. Chr. den rechtsrheinischen Raum großflächig in Besitz zu nehmen und die Verkehrsinfrastruktur vom und zum Zentrum Mainz-Mogontiacum auszubauen. Für die große Bedeutung von Gernsheim am Rhein in römischer Zeit spricht seine verkehrsgünstige Lage, hier zweigte eine Straße an den Mainlimes von der Fernstraße Mainz – Ladenburg – Augsburg ab. Auch die Existenz eines Rheinhafens wird vermutet, was durch diese Grabung allerdings nicht bestätigt werden konnte – »das war schon durch die Auswahl des Areals nicht zu erwarten«, so Maurer. Gernsheim hat sich im 20. Jahrhundert immer stärker ausgedehnt, was die archäologischen Spuren mehr und mehr zu verwischen drohte. Im August des vergangenen Jahres startete auf einem der wenigen noch unbebauten Grundstücke, ein Doppelgrundstück an der Nibelungenstraße 10-12, die erste Lehrgrabung des Instituts für Archäologische Wissenschaften der Goethe-Universität.

Die 20 Studierenden sorgen in der diesjährigen Grabungskampagne auf dem Grundstück, die sich mit 600 Quadratmetern über eine doppelt so große Fläche wie im ersten Jahr erstreckt, dafür, dass das Erdreich sorgsam abgetragen, die Befunde vermessen und dokumentiert sowie Gegenstände sorgsam geborgen und verpackt wurden. Unterstützt wird die Tätigkeit der Frankfurter Archäologen vom Landesamt für Denkmalpflege Hessen (hessenARCHÄOLOGIE, Außenstelle Darmstadt) sowie vom Kunst- und Kulturhistorischen Verein der Schöfferstadt Gernsheim. Einige Mitglieder dieses Vereins, der auch das Heimatmuseum betreibt, stehen dem Grabungsteam täglich mit Rat und Tat zur Seite. Die Dokumentation und das Fundmaterial aus dieser Grabungskampagne bilden die Grundlage für die wissenschaftliche Bearbeitung, die u.a. in Form von universitären Abschlussarbeiten demnächst an der Goethe-Universität erfolgen wird.

Luftbild des römischen Steingebäudefundamentes. Länge der Messlatte (weiß) am oberen Bildrand 5 m. Foto: Dennis Braks
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