Immer gegen den Uhrzeigersinn: Rätsel frühneolithischer Hausausrichtungen gelöst

Menschliches Verhalten wird von vielen Dingen beeinflusst, die uns meist unbewusst bleiben. Dazu gehört ein Phänomen, das unter Wahrnehmungspsychologen unter dem Begriff »Pseudoneglect« bekannt ist. Damit bezeichnen sie die Beobachtung, dass gesunde Menschen ihr linkes Gesichtsfeld gegenüber dem rechten bevorzugen und deshalb eine Linie regelhaft links der Mitte teilen. Eine heute in der Online-Zeitschrift PLOS ONE veröffentlichte Studie zeigt nun erstmals, welchen Effekt diese unscheinbare Abweichung in der prähistorischen Vergangenheit hatte.

Frühneolithische Hausgrundrisse
Frühneolithische Häuser während der Ausgrabung. Foto: N. Müller-Scheeßel

Ein slowakisch-deutsches Forschungsteam hat die Ausrichtung frühneolithischer Häuser in Mittel- und Osteuropa untersucht. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Sonderforschungsbereiches (SFB) »TransformationsDimensionen« der Christian-Albrechts-Universität Kiel (CAU) und der Slowakischen Akademie der Wissenschaften gelang dabei der Nachweis, dass die Orientierung neu gebauter Häuser um einen kleinen Betrag von derjenigen bereits bestehender Bauwerke abweicht und dass diese Abweichung regelhaft gegen den Uhrzeigersinn erfolgte.

Dr. Nils Müller-Scheeßel, der die Studie innerhalb des SFB koordinierte, sagt dazu: »Seit langem geht man in der Forschung davon aus, dass die frühneolithischen Häuser ungefähr eine Generation, d. h. 30–40 Jahre gestanden haben und in regelmäßigen Abständen neue Häuser neben bereits bestehenden errichtet werden mussten. Auf der Basis zahlreicher Radiokarbondatierungen können wir nun zeigen, dass die Neuerrichtung mit einer kaum wahrnehmbaren Drehung der Hausachse gegen den Uhrzeigersinn verbunden war. Wir sehen ,Pseudoneglect’ als wahrscheinlichste Ursache dafür.«

Diese Erkenntnis ermöglicht die Interpretation eines der zur Zeit am schnellsten wachsenden archäologischen Datenbestände, nämlich der geophysikalischen Methode der Magnetik. Dabei werden Unterschiede im Erdmagnetfeld dazu genutzt, um im Untergrund liegende archäologische Befunde sichtbar zu machen. Frühneolithische Hausgrundrisse gehören zu den am besten identifizierbaren Befundgattungen.

»In den letzten Jahren haben wir in unserem Arbeitsgebiet in der Südwestslowakei mit geophysikalischen Prospektionsmethoden Hunderte von frühneolithischen Häusern entdeckt. Diese Häuser alle auszugraben ist weder möglich noch aus denkmalpflegerischen Gründen überhaupt wünschenswert. Die Möglichkeit, über ,Pseudoneglect’ die Häuser ohne Ausgrabung in eine relative Abfolge zu bringen und damit das Siedlungsgeschehen einer ganzen Kleinregion aufzuschlüsseln, hebt unsere Forschung auf ein ganz neues Niveau«, äußert sich Müller-Scheeßel begeistert. »Die absolute Datierung mit naturwissenschaftlichen Methoden muss selbstverständlich in jedem Fall die Grundtendenz bestätigen«.

In der Studie wird ferner auf vergleichbare archäologische Beobachtungen an anderen Orten und Zeiten verwiesen, so dass ähnliche Orientierungsveränderungen auch für jüngere prähistorische Perioden zuzutreffen scheinen. Die Bedeutung von »Pseudoneglect« reicht also weit über frühneolithische Häuser hinaus.

Magnetometer
Von einem Auto gezogenes Gerät zur magnetischen Prospektion kurz vor dem Einsatz. Foto: M. Furholt
Magnetogramm
Beispielplan einer frühneolithischen Siedlung. Jeweils zwei der Befunde von 20–30 m Länge sind Teil eines Hauses. Grafik: N. Müller-Scheeßel.
Publikation

Müller-Scheeßel, Nils et al.

A new approach to the temporal significance of house orientations in European Early Neolithic settlements

PLOS ONE. 01.2020
DOI: https://dx.doi.org/10.1371/journal.pone.0226082
https://journals.plos.org/plosone/articl...

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