Fürsorge und Gewalt im Transitland Sachsen-Anhalt

Bilanz der archäologischen Ausgrabungen an der ICE-Trasse auf der Querfurter Platte

Blockbergung eines bronzezeitlichen Wegstücks - Chirurgie in der Jungsteinzeit - Tödliche Auseinandersetzungen in Neolithikum und Mittelalter

Neolithische Trepanation
Das kreisrunde Loch im Schädeldach stammt von einem chirurgischen Eingriff, einer sog. Schädeltrepanation (ca. 2.400 v. Chr.). Oechlitz, SK. Foto: U.Swieder © LDA Halle

Die archäologischen Geländearbeiten auf der ICE-Strecke Erfurt – Leipzig/Halle sind abgeschlossen. Bei den zwei Jahre andauernden Ausgrabungen wurden auf 22 km Trassenlänge 15 Fundstellen archäologisch untersucht und dokumentiert. Auf einer Fläche von ca. 100 ha - das entspricht ungefähr 200 Fußballfeldern - wurden über 10.000 archäologische Befunde erforscht und mehr als 100.000 Funde sichergestellt. Dafür waren 8 Grabungsteams mit insgesamt bis zu 150 Mitarbeitern seit September 2008 ununterbrochen im Gelände und im Innendienst tätig. Sechs Wochen nach dem Ende der Geländearbeiten kann nun eine erste, erfolgreiche Zwischenbilanz gezogen werden.

Die ergrabenen Funde und Befunde erstrecken sich über 7.500 Jahre Menschheitsgeschichte und geben intensive Einblicke in das Siedlungswesen und Wirtschaften unserer Vorfahren. Zu den Befunden gehören unterschiedliche Haustypen, Öfen, Vorrats- und Abfallgruben sowie Reste prähistorischer Flursysteme. Die Funde bestehen zum weit überwiegenden Teil aus Keramik, daneben gibt es Werkzeuge, Waffen und Schmuckstücke aus Stein, Bronze, Eisen und Silber. Die Analyse der über 800 Bestattungen verspricht Aussagen zur Bevölkerungsgeschichte, zur Lebensweise und den Umweltbedingungen in den vergangenen Epochen.
Schon jetzt aber zeichnen sich erste spektakuläre Ergebnisse ab, die die Aspekte Fürsorge und Gewalt in Mittelalter und Vorzeit sowie Verkehr und Handel in der Bronzezeit erhellen.

So entdeckten die Archäologen zwischen Oechlitz und Langeneichstädt (Saalekreis) das 4.400 Jahre alte Grab einer gehbehinderten Frau, die mit ihrem Kleinkind bestattet war. Zu Lebzeiten war diese Frau jahrelang auf die Fürsorge ihrer Dorfgemeinschaft angewiesen.
Bei drei Toten waren die Schädel durch einen chirurgischen Eingriff (sog. Trepanation) geöffnet. Dies geschah zur Schmerzerleichterung bei Verletzungen und Erkrankungen. Die Individuen stammen aus der ausgehenden Jungsteinzeit (ca. 2.400–2.100 v. Chr.) und der frühen Bronzezeit (ca. 2.100–1.600 v. Chr.), das medizinische Fachwissen existierte also offensichtlich über einen langen Zeitraum hinweg. Nach derzeitigem Diagnosestand überlebten die Patienten diesen Eingriff um mehrere Monate bis Jahre.

Ganz anderer Art sind die Nachweise gewaltsamer Auseinandersetzungen: Tödliche Verletzungen durch Beil- und Schwerthiebe fanden sich an endneolithisch/frühbronzezeitlichen sowie früh- bis hochmittelalterlichen Skeletten aus Niederwünsch, Klein Gräfendorf und Bad Lauchstädt (Saalekreis). Ein besonderes Rätsel gibt ein Toter aus Klein Gräfendorf auf: Ihm fehlt der Schädel. Zur Zeit seiner Bestattung (6. Jh.) und in den nachfolgenden Jahrhunderten war das südliche Sachsen-Anhalt eine umkämpfte Grenzregion zwischen Thüringern und Franken, Slawen und Sachsen. Bilden diese Konflikte den Hintergrund für den grausigen Fund?

Damals wie heute zeichnet sich der mitteldeutsche Großraum durch seine verkehrsgeographisch günstige Lage aus. Handel und Austausch von Ressourcen zwischen benachbarten Bevölkerungsgruppen – von Salz oder Kupfer beispielsweise – prägen daher ebenso wie der Transitverkehr seit Jahrtausenden die Wirtschaft der Region im Herzen Europas. So überrascht es nicht, dass Mitteldeutschland auch eine der an vorgeschichtlichen Bronzefunden reichsten Regionen Europas ist.

Ganz überraschend waren dennoch die reichen Funde aus der sog. Hügelgräberbronzezeit (1.600–1.100 v. Chr.). In mindestens drei gut ausgestatteten Frauengräbern fanden sich besondere Schmuckstücke, die wegen der Gestaltung ihres Kopfes so genannten Radnadeln. In einem konkreten Fall konnte anhand der Herstellungstechnik nachgewiesen werden, dass die Nadel ein Importstück aus dem Lüneburgischen ist. Ein anderes Grab enthielt eine gerippte Kolbenkopfnadel. Diese etwas jüngere Nadelform stammt aus dem bayerischen und sächsischen Raum.

Es ist ein besonderer Glücksfall, dass nicht nur Objekte aus fernen Gegenden, sondern auch die Wegeverbindung im Verkehrsnetz selbst archäologisch nachzuweisen war.
So entdeckten die Archäologen bei Oechlitz die Spuren eines Weges in Gestalt von kräftigen, humos verfüllten Spurrillen. Unter den normalen Bedingungen der industriell betriebenen Landwirtschaft sind diese Spuren vollständig zerpflügt. Hier jedoch sind diese Fahrgeleise am Rand einer Hanglage über eine Länge von insgesamt 600 m zu verfolgen. Aus dem Weg konnten verschiedene Bronzefunde geborgen werden, die es ermöglichen, die Altstrasse in die Zeit um 1.500 v. Chr. zu datieren. Der Weg hat an dieser Stelle mindestens 400 Jahre lang existiert, bevor er aufgegeben wurde: In Form eines Grabens durchschneidet die jungbronzezeitliche Landschaftsgestaltung diese Verkehrsverbindung aus dem Thüringer Becken in das hallesche Gebiet. Bronzefunde und Altweg, von dem ein Segment in einem 4 Tonnen schweren Holzsarkophag en bloc gehoben wurde, werden aufgrund ihrer landesgeschichtlich herausragenden Bedeutung Bestandteil des neuen Abschnitts der Dauerausstellung im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle werden.

Mit detaillierter Landschaftskenntnis haben es unsere Vorfahren verstanden, bevorzugte Siedlungsräume – wie etwa das Thüringer Becken und die Halle-Leipziger Tieflandsbucht – durch günstige Verkehrslinien miteinander zu verbinden. Auf dieser Basis florierten Nah- und Fernhandel im Transit durch das heutige Sachsen-Anhalt.

Die ICE-Trasse erweckt also mit ihrer Streckenführung eine 3.500 Jahre alte Fernverbindung zu neuem Leben.

Mittelalterliches Gewaltopfer
Dieser Tote wurde um 1.000 n. Chr. Opfer einer gewaltsamen Auseinandersetzung. Die Wunde ist unterhalb des rechten Auges zu erkennen. Niederwünsch, SK. Foto: S.Grippa © LDA Halle
Mittelbronzezeitlicher Schmuck
Vielfältiger Bronzeschmuck wurde den Frauen in der Mittelbronzezeit (ca. 1.400 v.Chr.) beigegeben. In situ eine zerbrochene Radnadel, Spiral– und Drahtschmuck. Oechlitz, SK. Foto: F.Zeuschner © LDA Halle
Schnurkeramische Pailletten
Neben unterschiedlich großen Muschelknöpfen finden sich in Gräbern der Schnurkeramischen Kultur (ca. 2.800–2.100 v. Chr.) immer wieder zahlreiche, durchbohrte kleine Muschelscheibchen. Sie werden als Pailletten bezeichnet, da sie ursprünglich in dichter Reihung als schmückender Kleiderbesatz verwandt wurden. Oechlitz, SK. Foto: A.Hörentrup © LDA
Pfeilspitzen der Glockenbecherzeit
Belege für kriegerische Auseinandersetzung oder Statussymbole? Verschieden gearbeitete Pfeilspitzen aus Silex, geborgen aus Gräbern der Glockenbecherzeit (ca. 2.400–2.100 v. Chr.). Oechlitz, SK. Foto: A.Hörentrup © LDA
Bronzezeitlicher Weg
Die mit Humus verfüllten Spurrillen des 3.500 Jahre alten Weges zeichnen sich als parallel laufende, graufarbene Bänder im hellen Untergrund deutlich ab. Oechlitz, SK. © LDA Halle
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