Die Himmelsreligion der Hethiter

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Mitten in Zentralanatolien, rund 150 Kilometer östlich von Ankara, liegt eine archäologische Stätte, deren Zauber sich kaum ein Besucher entziehen möchte. Nur wenige hundert Meter außerhalb der Stadtmauern der ehemaligen hethitischen Hauptstadt Hattuša befindet sich das über dreitausend Jahre alte Felsheiligtum Yazılıkaya – seit 1986 UNESCO Weltkulturerbe und unabhängig von dieser Auszeichnung eine archäologische Fundstätte mit einzigartiger Aura. Das Heiligtum liegt gut versteckt in einer Gruppe von Kalksteinfelsen nahe dem Dorf Boğazkale und bleibt dabei fast anonym: Sein türkischer Name heißt übersetzt einfach »beschriebener Fels«. Als 1834 zum ersten Mal ein europäischer Archäologe, der Franzose Charles Texier, diese Gegend besuchte und zunächst die Ruinen der einstigen Hauptstadt sah und zeichnete, führten ihn die Dorfbewohner gezielt auch in das gut verborgene Yazılıkaya.

Wenige Jahrzehnte vor dem Untergang des hethitischen Königreichs (um 1190 v. Chr.) meißelten die Steinmetze des Großkönigs über neunzig Reliefs von Personen, Tieren und Fabelwesen in die beiden natürlichen Innenhöfe (Kammer A und B) des Felsmassivs. Die Darstellungen in Kammer A bilden Reliefbänder mit einer Art Prozession hethitischer Gottheiten. Dass es sich um Götter handelt, steht außer Frage, denn viele von ihnen sind mit luwischen Hieroglyphen namentlich gekennzeichnet. Neben Göttern treten auch mythische Wesen und Chimären auf, darunter zwei besonders markante Stiermänner, die mit weit nach oben gestreckten Armen etwas über den Kopf halten, was wie eine große Schüssel aussieht. Charles Texiers Zeichnungen dieser Figuren waren eine Sensation, denn niemand hätte in einer abgelegenen Gegend im Herzen Kleinasiens eine so ausgeprägte Reliefkunst erwartet. Sie unterscheidet sich von allem, was bis heute aus Griechenland, Ägypten und Mesopotamien bekannt ist.
Zur besonderen Ausstrahlung des Heiligtums trägt wohl bei, dass genau hier einige Jahrhunderte lang die hethitischen Großkönige vermutlich zusammen mit ihren Familien und ranghohen Repräsentanten der Gesellschaft zu besonderen Festen zusammenkamen. Auch die versteckte Lage der Kammern, ihre offensichtlich herausragende Bedeutung in der hethitischen Religion und die bildhafte Darstellung der wichtigsten Götter der damaligen Zeit faszinieren die Besucher. Yazılıkaya kann aber auch als eine Herausforderung für die Archäologie verstanden werden, denn die eigentliche Funktion des Heiligtums blieb stets verborgen. An Erklärungsversuchen für die Götterprozessionen mangelt es nicht. Der Komplex hielt aber fast zwei Jahrhunderte lang allen Interpretationsmodellen stand.

Hinweise auf technische Funktion

Der deutsche Prähistoriker Jürgen Seeher, ein früherer Ausgräber von Hattuša, sagt, dass Yazılıkaya bis heute sein Rätsel bewahrt habe. In seinem »Hattuša Führer« und in der 2011 veröffentlichten monografischen Publikation über Yazılıkaya erwähnt Seeher eher beiläufig, dass das besonders imposante Relief des Großkönigs Tuthalija IV. in Kammer A nur an wenigen Tagen zur Zeit der Sommersonnenwende hell von Sonnenstrahlen erleuchtet wird. Dieser Umstand und die bis zu zwölf Meter hohen, fast glatten Wände von Kammer B weckten in mir den Eindruck, dass Yazılıkaya durchaus eine technische Funktion gehabt haben könnte. Zwar scheinen die senkrechten Wände von Kammer B im Wesentlichen natürlichen Ursprungs zu sein, denn ähnliche Strukturen treten in der Gegend auch anderswo auf, aber die Baumeister des Heiligtums haben die glatten Flächen dieser Wände noch zusätzlich mit gesägten Natursteinen verlängert. Außerdem waren die beiden Kammern niemals überdacht, obwohl dies einfach zu bewerkstelligen gewesen wäre. Die Reliefs blieben also der Sonne, dem Regen und der Witterung ausgesetzt. Demnach könnten Licht-Schatten-Aspekte, sowie der Lauf der Sonne, des Mondes oder der Sterne bei der Funktion des Heiligtums eine Rolle gespielt haben. Einen Bezug zum Himmel legen zudem manche der Relieffiguren nahe: Der Sonnengott des Himmels wird explizit als solcher bezeichnet. Er geht in der Prozession hinter dem geflügelten Mondgott, welcher der ebenfalls mit Flügeln dargestellten Šauška folgt, die dem Planeten Venus zugeordnet wird. Und Šauška schreitet der babylonische Himmelsgott Ea voran. Hinweise auf den Himmel sind also reichlich vorhanden – und eine technische Funktion der Anlage im Bereich Himmelsbeobachtung und Kalenderwesen schien mir durchaus denkbar, als ich 2014 den Ort erstmals besuchte.

Rita Gautschy vom Archäologischen Institut der Universität Basel ist sowohl in Archäologie wie auch in Astronomie habilitiert. Gemeinsam begannen wir über mögliche astronomische Nutzungen von Yazılıkaya nachzudenken. Wie ein Geschenk des Himmels erschien 2015 das vom britischen Professor für Archäoastronomie Clive Ruggles herausgegebene »Handbuch der Archäoastronomie und Ethnoastronomie« mit seinen drei Bänden und fast 2300 Seiten Umfang. In den Beiträgen sahen wir, dass sich die spanischen Astrophysiker Juan Antonio Belmonte und A. César González-García bereits seit Jahren mit astralen bzw. solaren Aspekten der hethitischen Religion befassen. Sie maßen die Ausrichtung der Tempel und Tore in Hattuša und stellten fest, dass diese mit hoher statistischer Wahrscheinlichkeit astronomisch orientiert sind. Im Felsheiligtum Yazılıkaya bemerkten die Astrophysiker, dass die nördliche Außenmauer des Torhauses auf den Sonnenuntergang zur Sommersonnenwende zeigt. Bereits 1990 hatte Juan Antonio Belmonte erkannt, dass die zwölf gleichförmigen männlichen Gottheiten in Kammer B den Mondmonaten des Jahres entsprechen könnten. Auch der US-amerikanische Astronom Edwin C. Krupp hatte Yazılıkaya besucht und Bezüge zum Himmels erkannt. Nach seinem Dafürhalten stellen die Prozessionen eine »kosmische Erzählung« dar. Das Interesse und die ersten Ergebnisse der Archäoastronomen verliehen uns Mut.

Tempelmauern zeigen auf Sonnenwenden

Schon bald erkannten wir, dass die Nordmauer des zuletzt errichteten Bauwerks IV auf den Sonnenuntergang zur Zeit der Wintersonnenwende ausgerichtet ist. Die merkwürdig verwinkelte Anordnung der in mindestens drei Bauphasen errichteten Tempelgebäude ergab somit erstmals einen Sinn. Das älteste Gebäude erwies der Sommersonnenwende Reverenz, das jüngste der Wintersonnenwende. Ob es sich dabei um eine symbolische oder um eine technische Funktion handelte, blieb zunächst offen. Die hethitischen Baumeister hatten in der Verlängerung beider auf die Sonnenwenden ausgerichteten Mauern einen natürlichen Felsblock stehen gelassen. Beim Bauwerk IV enthält dieser Felsblock sogar eine künstliche halbkugelförmige Mulde von 28 Zentimeter Durchmesser, die als eine Art »Weihwasserbecken« interpretiert wird.

Um die Denkweise der damaligen Zeit besser verstehen zu können, lasen wir zahllose wissenschaftliche Abhandlungen über hethitische Religion und babylonische Astronomie. Dabei lernten wir, dass sich von den über 33.000 in Hattuša gefundenen Dokumenten und Fragmenten mindestens 50 eindeutig auf astronomische oder astrologische Themen beziehen. Demnach hatten die Hethiter ihr Wissen über den Himmel nahezu vollständig von Mesopotamien übernommen. Besonders hilfreich fand ich die Werke des ersten Ausgräbers von Hattuša, Hugo Winckler, der sich ab 1901 für die These starkmachte, dass die heutigen Weltreligionen einen gemeinsamen Ursprung in einer altbabylonischen Gestirnsreligion hätten. Winckler erkannte verblüffend viele Zusammenhänge, ohne jedoch einen Bezug zu Yazılıkaya herzustellen.

Figuren symbolisieren Tage des Mondmonats

Schritt für Schritt tasteten wir uns in einem Zeitraum von fünf Jahren an ein neues Interpretationsmodell heran. Im Vorderasien des 2. Jahrtausends v. Chr. waren Lunisolarkalender gebräuchlich. Die Datumsberechnung erfolgte dabei vor allem nach den Mondphasen. Der Mondmonat begann mit der ersten Sichtbarkeit der Mondsichel nach Neumond und zählte entweder 29 oder 30 Tage. Zwölf Mondmonate addieren sich zu 354 Tagen – es fehlen also 11¼ Tage gegenüber dem Sonnenjahr. Deswegen waren schon im 4. Jahrtausend v. Chr. Schaltmonate üblich. Etwa jedes dritte Jahr umfasste demnach nicht zwölf, sondern dreizehn Mondmonate. So fiel der Beginn der Jahreszeiten immer ungefähr auf das gleiche Kalenderdatum.

Wenn die zwölf gleichförmigen männlichen Gottheiten die Mondmonate symbolisieren, liegt es eigentlich nahe, dass die nächsten dreißig Figuren für die Tage innerhalb des Mondmonats stehen. Diese Gruppe wird durch den langen Stab des Wettergottes von Hatti (Relief 41) klar von der eigentlichen Hauptszene getrennt. Wir gehen davon aus, dass die Tage und Monate von rechts nach links gezählt wurden, weil bei der luwischen Hieroglyphenschrift die Leserichtung immer entgegengesetzt zu Gesichtern und Händen verläuft. Begann der Mondmonat also beim Stab des Wettergottes, so fiel der Vollmond stets mit den beiden Stiermännern (Relief 28-29) zusammen. Die von ihnen getragene große Schüssel entspricht dem Hieroglyphenzeichen für »Himmel«, das in Mesopotamien auch als »Boot des Lichts« galt. Die Stiermänner trugen also nicht etwa die Mondsichel, wie es scheinen mag, sondern tatsächlich den Vollmond. Sie markierten den einzigen Tag des Monats, an dem eine Mondfinsternis auftreten konnte, die zumindest nach babylonischem Glauben den König in Gefahr brachte. Eine wichtige Aufgabe der Priester bestand darin, mit Hilfe des Kalenders solche Ereignisse vorherzusagen.

Die weiblichen Gottheiten stehen für Jahre

Wir hatten also eine plausible Erklärung für die Gottheiten auf der westlichen Seite von Kammer A gefunden. Aber wozu dienten die Hauptszene und die weiblichen Gottheiten an der östlichen Wand? Um diese Frage beantworten zu können, trugen wir alle Figuren auf einem Bogen auf. Von den weiblichen Gottheiten sind siebzehn nahezu komplett erhalten. Von einer Figur ist heute nur noch der Name sichtbar, und eine weitere wurde 1945 in einem Nachbarort namens Yekbas entdeckt, wo sie als Baustein in einem Mauerwerk verwendet worden war. Sie befindet sich heute im Museum in Boğazkale. Insgesamt zählen also offenbar neunzehn Figuren zur Prozession der weiblichen Gottheiten. Die Steinmetze hatten eine bemerkenswerte Säule aus dem Naturstein herausgearbeitet, die eine Teilmenge mit acht der weiblichen Figuren abtrennt. Acht und neunzehn, das sind die Anzahl Jahre, die man benötigt, um Sonnenjahre und Mondmonate in Einklang zu bringen. Griechische Gelehrte gaben diesen beiden Zyklen später die Namen Oktaëteris und Enneadekaëteris. Nach neunzehn Sonnenjahren bzw. 235 Mondmonaten oder 6940 Tagen erreichen Sonne und Mond wieder fast die gleiche Konstellation am Himmel. Die weiblichen Gottheiten symbolisieren also Jahre. 

Yazılıkaya war demnach der Ort, an dem die hethitischen Priester den Kalender führten. Aller Wahrscheinlichkeit nach markierten sie den Tag, den Monat und das Jahr mit beweglichen Zeigern in Form von Säulen aus Stein oder Holz. So ließen sich die wichtigsten Zeitpunkte des Jahres bestimmen: die Sonnenwenden, die Tagundnachtgleichen, der Jahresanfang und die Monatsfeste. Insgesamt galt es bis zu 165 Festtage pro Jahr zeitlich zu verankern, denn die Hethiter ließen keine Gelegenheit aus, ihre zahllosen Gottheiten zu ehren.

Das Fest zur Sonnenwende

Es fällt nun nicht mehr schwer, sich die Abläufe während der Festlichkeiten in Yazılıkaya bildlich vorzustellen. Der König und seine Familie, begleitet von Priestern, versammelten sich am Tag der Sommersonnenwende im Hof der Tempelanlage. Das Torhaus gewährte der Sonnengöttin von Arinna Einlass. Kurz vor Sonnenuntergang drangen ihre Strahlen durch das Torhaus in den Tempelhof, wo sie eine präzise platzierte und vermutlich mit Gold überzogene Statue der Göttin selbst erleuchteten und den Festbesuchern eine Epiphanie bescherten. Tief bewegt von diesem eindrücklichen Erlebnis, schritt die Festgemeinde in die große Kammer A und sah, wie das Bildnis des Großkönigs, das während des ganzen Jahres im Schatten lag, nun wie von magischer Kraft hell erleuchtet war. Die heilige Kraft der Sonnengöttin war auf ihren irdischen Vertreter übertragen und dessen Macht auf diese Weise gestärkt worden.

Diese neue Interpretation von Yazılıkaya setzt keineswegs einen Schlusspunkt unter die Suche nach einer Erklärung für die Anlage. Vielmehr ist sie nur ein erster Schritt in eine neue Richtung. Viele Fragen bleiben offen: Was genau stellen die fünf Gottheiten der Hauptgruppe dar? Was war die Funktion von Kammer B – und wozu dienen die darin abgebildeten Gottheiten? Welche Aufgabe hatte der aufwändige Yerkapı-Komplex im höchsten Teil der Oberstadt von Hattuša? Gab es an anderen Orten kleinere und weniger kunstvoll ausgestattete Anlagen mit einer vergleichbaren Funktion wie Yazılıkaya? Nach über hundert Jahren systematischer Erforschung der hethitischen Kultur scheinen wir in mancherlei Hinsicht wieder ganz am Anfang zu stehen.

Eberhard Zangger

 

Die wissenschaftliche Publikation dieser neuen Interpretation ist im Journal of Skyscape Archaeology im Open Access nachzulesen:

Publikation

Eberhard Zangger, Rita Gautschy

Celestial Aspects of Hittite Religion: An Investigation of the Rock Sanctuary Yazılıkaya

Journal of Skyscape Archaeology 5.1 (2019) 5-38. 21.06.2019
DOI: 10.1558/jsa.37641
https://journals.equinoxpub.com/JSA/arti...

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