Wohnen wie der Pfalzgraf

Blitzeinschläge, Brände, Kriege – am Heidelberger Schloss hat über die Jahrhunderte nicht nur der Zahn der Zeit genagt. Heute gilt es nicht nur als eines der bedeutendsten Renaissancebauwerke nördlich der Alpen, es ist mit 1,1 Millionen Besuchern aus aller Welt jährlich auch eines der beliebtesten Ziele für Touristen in Deutschland. Jetzt hat ein Forscher des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) die Burg in ihrer einstigen Gestalt wiedererstehen lassen – als dreidimensionale virtuelle Rekonstruktion.

Prächtige Residenz: Rekonstruktion des Heidelberger Schlosses
Prächtige Residenz: Rekonstruktion des Heidelberger Schlosses um 1683. (Bild: KIT)

Manche sagen, das verwunschen wirkende Gemäuer, das auf dem Königstuhl über der pittoresken Heidelberger Altstadt thront, sei die bekannteste Schlossruine der Welt. Einst pries Martin Luther die Schönheit und Wehrhaftigkeit der imposanten Burg – der Reformator war zu einer Verteidigung seiner Thesen nach Heidelberg gekommen. Später, nach der Sprengung der Wehranlagen durch die Truppen des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV., wurden ihre Überreste zum Inbegriff der Deutschen Romantik.

Wo nunmehr leere Fensterhöhlen auf das malerische Neckartal blicken und mit Efeu überwucherte Mauerreste wie Klippen schroff in den Himmel ragen, kann der Besucher in der Simulation von Julian Hanschke vom Institut für Kunst- und Baugeschichte am KIT den einst wuchtigen, dann zur Hälfte weggesprengten Dicken Turm besteigen, unter den Kreuzgratgewölben des Kaisersaals im Ottheinrichbau umherspazieren, den aus der antiken Sagenwelt entlehnten Figurenschmuck an der Fassade des an einen venezianischen Palazzo erinnernden Friedrichsbau betrachten oder den 360-Grad-Blick durch den Schlosshof im Jahre 1683 schweifen lassen.

Die Rekonstruktion des Architekturhistorikers übertrifft dabei den Detailreichtum, mit dem etwa die Entwickler der populären Computerspielreihe Assassin´s Creed in jahrelanger Kleinarbeit die Wahrzeichen des renaissancezeitlichen Konstantinopel, des revolutionären Paris oder des viktorianischen London nachbauten. Der Aufwand für den digitalen Wiederaufbau ist beträchtlich: Anhand historischer Pläne, Ansichten und Zeichnungen müsse am Computer jedes Detail nachmodelliert werden. "Es ist nicht so, dass man ein paar Bilder einscannt und der Rechner den Rest erledigt", erklärt Hanschke. Zwar ähnelt sich die Arbeitsweise der Erbauer imaginärer Spielwelten und des Architekturhistorikers damit in gewisser Weise. Allerdings sei seine Rekonstruktion keine Fantasiewelt, sondern ein wissenschaftlich akkurater Nachbau, der bis in die kleinste Einzelheit auf historischen Quellen fuße, betont Hanschke.

Glücklicherweise konnte er bei seiner fünf Jahre dauernden Forschungsarbeit auf eine Fülle von Bildquellen zurückgreifen. Denn vor 100 Jahren gab es Bestrebungen, das Heidelberger Schloss wieder aufzubauen. "Wie die Hohkönigsburg im Elsass," so der Wissenschaftler. Dazu seien der komplette Baubestand dokumentiert und vermessen sowie hunderte Pläne gezeichnet worden. "Das ist die wohl vollständigste Bauaufnahme eines deutschen Schlosses", sagt Hanschke. Auch bei der digitalen Rekonstruktion seien gewaltige Datenmengen angefallen. Der sich in der Realität über 270 mal 280 Meter ausdehnende Gebäudekomplex nimmt auf der Festplatte rund drei Gigabyte Speicherplatz ein.

Darum, das Schloss real wieder aufzubauen, gehe es ihm aber keinesfalls, sagt Hanschke. Er wolle lediglich die Ergebnisse der historischen Forschungsarbeit, die den Löwenanteil seines Vorhabens ausgemacht habe, unmittelbar Erlebbar machen. Frank Thomas Lang von den Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg, die das Baudenkmal verwalten, ist begeistert von Hanschkes Projekt: "Die Rekonstruktionen sind außerordentlich eindrucksvoll und lassen auch für Laien sichtbar werden, was das Heidelberger Schloss zu seiner Glanzzeit war – ein unschätzbarer Vorteil."

Für die historisch und räumlich stimmige Nachbildung von Gewölben wie etwa dem verschwundenen Theatersaal im Dicken Turm oder dem Dekor auf Friesen, Fensterstürzen und Säulenkapitellen sei ein tiefes Verständnis für die zugrundeliegenden Konstruktionen nötig, so Hanschke. Wissen, über das die Architekten der Gegenwart meist nicht mehr verfügten. "Seit dem Bauhaus gibt es ja kein Ornament mehr", konstatiert der Bauhistoriker. Seine Bewunderung für die alten Baumeister kann er nicht verhehlen. Die hätten für die Ewigkeit gebaut. "Schauen Sie sich dagegen dieses Gebäude dort an", sagt Hanschke und deutet auf einen modernen Zweckbau, der von seinem Büro aus zu sehen ist. "In 30 Jahren werden dort die Fassadenplatten abfallen." Besuchen wird diese Ruine dann wohl niemand.

Auch in seiner Forschungsarbeit setzt Julian Hanschke auf Nachhaltigkeit: Die Computersimulationen hat er mit einer rund 500 Seiten starken Publikation unterfüttert, die auch seine Habilitationsschrift darstellt. Der reich bebilderte Band enthält neben den suggestiven Schlossansichten viele Fotos und historische Ansichten sowie eine an den Quellen ausgerichtete, erschöpfend recherchierte Schlossgeschichte. Ein Projekt, wie es laut Hanschke seit hundert Jahren zu diesem Bauwerk keines mehr gegeben hat: "Es ist die erste, ausschließlich an den historischen Quellen orientierte Darstellung der Geschichte des Heidelberger Schlosses."

Kapellenerker im Bibliotheksbau
Kapellenerker im Bibliotheksbau. (Bild: KIT)
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