Fett als Überlebensstrategie: Neandertaler nutzten Knochenressourcen systematisch

Am Fundplatz Neumark-Nord im Tal der Geisel zeigt sich: Neandertaler betrieben bereits vor 125.000 Jahren systematisch Fettgewinnung aus Knochen – ein Beleg für komplexes Ressourcenmanagement und vorausschauendes Handeln.

Neandertaler hatten am Ufer eines Sees vor 125.000 Jahren systematisch Knochen von mindestens 172 großen Säugetieren, darunter Hirsche, Pferde und Auerochsen, in zehntausende Stücke zerschlagen, um durch Erhitzen in Wasser kalorienreiches Knochenfett zu gewinnen. Solch hochkomplexes vorausplanendes Ressourcenmanagement hatte man lange nur späteren Menschengruppen zugetraut.

KI-gernerierte Darstellung der Fettfabrik-Fundstelle
Eine KI-generierte Darstellung der Aktivitäten an der »Fettfabrik«-Fundstelle. Das Bild wurde mithilfe von OpenAI/ChatGPT (Version 4o, 2025) auf Basis von Textanweisungen zur Illustration erstellt und anschließend bearbeitet und retuschiert. Quelle: © F. Scherjon, LEIZA-Monrepos

Ein Fundplatz in Mitteldeutschland liefert bahnbrechende Einblicke in das Leben der Neandertaler: Vor rund 125.000 Jahren betrieben sie dort eine systematische Gewinnung von Knochenfett – ein Zeichen für überraschend fortschrittliche Ernährungsstrategien und eine vorausschauende Nutzung ihrer Umwelt. Die Erkenntnisse stammen aus einer aktuellen Studie eines internationalen Forschungsteams unter Leitung des Leibniz-Zentrums für Archäologie (LEIZA) und der Universität Leiden. Die Ergebnisse wurden kürzlich in der Fachzeitschrift Science Advances veröffentlicht.

Im heutigen Geiseltal, nahe Braunsbedra in Sachsen-Anhalt, liegt der altsteinzeitliche Fundplatz Neumark-Nord. Hier zerschlugen Neandertaler Knochen von mindestens 172 Großsäugern wie Hirschen, Pferden und Auerochsen in zehntausende Fragmente. Ziel dieser mühevollen Arbeit: die Gewinnung von kalorienreichem Knochenfett durch Erhitzen in Wasser. Ein solches Vorgehen wurde bisher nur späteren Menschengruppen zugeschrieben – nun ist klar, dass es bereits ein Teil des Neandertaler-Alltags war.

Dr. Lutz Kindler, leitender Archäologe der Studie, erklärt: »Das war intensiv, organisiert und strategisch. Die Neandertaler gingen äußerst planvoll vor – von der Jagd über den Transport der Kadaver bis hin zur Fettgewinnung an einem speziell dafür genutzten Ort.«

Die Analyse der Funde aus einem eng begrenzten Areal von nur 50 Quadratmetern förderte über 120.000 winzige Knochenfragmente sowie mehr als 16.000 Feuersteinwerkzeuge zutage. Die Konzentration und Vielfalt dieser Relikte spricht für eine gezielte Nutzung des Ortes – vermutlich eine Art prähistorische »Fettfabrik«. Auch Hinweise auf den Gebrauch von Feuer und auf Vorratsdepots (Caching) deuten auf eine ausgeklügelte Planung hin. Die Neandertaler scheinen saisonal gejagt und dabei überschüssige Körperteile gelagert zu haben, um sie später zur Fettgewinnung gezielt wieder einzusammeln.

Prof. Sabine Gaudzinski-Windheuser, Leiterin von MONREPOS, ergänzt: »Die Produktion von Knochenfett ist sehr arbeitsintensiv und lohnt sich nur, wenn ausreichend Material vorhanden ist. Je mehr Knochen gesammelt wurden, desto ergiebiger und lohnenswerter war der Prozess.«

Der Fundplatz Neumark-Nord ist dabei nicht nur wegen der Menge und Vielfalt der Funde bedeutsam. Seine außergewöhnliche Erhaltung erlaubt es, Rückschlüsse auf das Verhalten der Neandertaler in einer gesamten Landschaft zu ziehen. Neben der Fettverarbeitung fanden sich Belege für die Jagd auf Waldelefanten und die Nutzung von Pflanzen.

Prof. Wil Roebroeks von der Universität Leiden betont: »Wir sehen, wie Neandertaler in einem Gebiet Hirsche jagen und nur grob zerlegen, in einem anderen Elefanten intensiv verarbeiten – und wie in dieser Studie gezeigt – in einem zentralen Bereich Fett aus Hunderten von Säugetierknochen gewinnen.«

Diese Erkenntnisse stellen das Bild vom Neandertaler als reinem Jäger-Sammler infrage. Stattdessen zeigen sich komplexe, arbeitsintensive und vorausplanende Verhaltensmuster – eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit in einer mit der heutigen vergleichbaren Umwelt.

Harald Meller, Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt, fasst zusammen: »Die Entdeckungen von Neumark-Nord verändern unser Bild von der Anpassungsfähigkeit und den Überlebensstrategien der Neandertaler. Offenbar betrieben sie bereits komplexes Ressourcenmanagement, konnten vorausplanen, Nahrung effizient verarbeiten und ihre Umwelt geschickt nutzen.«

Der Fundplatz Neumark-Nord bleibt damit ein zentraler Schlüssel zur Erforschung der Verhaltensentwicklung des frühen Menschen – und zeigt einmal mehr die Bedeutung der langfristigen Sicherung archäologischer Archive für die Wissenschaft.

Zerkleinerte Knochen von der Fundstelle Neumark-Nord
Knochen wurden zerkleinert und in kleinere Stücke gehackt, um die Gewinnung von Fett aus dem schwammigen und kompakten Knochengewebe durch Erhitzen in Wasser zu erleichtern. Abb.: © L. Kindler / LEIZA-Monrepos
Rekonstruiertes Seebecken in Neumark Nord
Rekonstruktion des Seebeckens in Neumark Nord mit altsteinzeitlicher Großfauna. Bild: Karol Schauer / © Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt
Publikation

Kindler et al.

Large-scale processing of within-bone nutrients by Neanderthals, 125,000 years ago

Science Advances 11. 02.07.2025
DOI: 10.1126/sciadv.adv1257

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