Die Elgin Marbles: Geraubt oder in Sicherheit gebracht?

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Jeder von uns kennt die Akropolis, den gewaltigen Felsen, welcher fremdartig aus dem modernen Häusermeer der Stadt Athen herausragt. Und wenn vielleicht auch nur auf Fotos oder im Fernsehen, so haben wir alle sie doch schon einmal gesehen – die noch als Ruine eine unvergleichliche Majestät ausstrahlende Gestalt des Parthenon.

Erbaut um ca. 450 vor Christus, handelt es sich bei diesem Sinnbild der griechischen Antike nur rein optisch um einen Tempel. Für die Zeitgenossen handelte es sich eher um ein gewaltiges marmornes Siegesmonument, welches den endgültigen Triumph über die eigentlich weit überlegene Macht der Perser verkörperte. Einen Sieg, ohne den auch unser heutiges Europa einen gänzlich anderen Anblick bieten würde, wären ohne ihn doch große Teile seines Gebietes schon vor fast 2500 Jahren in den orientalischen Kulturraum eingegliedert worden.

Alles weitere zur Entstehungsgeschichte würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Doch was sieht der Mensch unserer heutigen Zeit, wenn er die uns erhalten gebliebenen Überreste des Parthenons erblickt? Für den heutigen Menschen hat jene ganz aus weißem Marmor errichtete Gestalt eine Umdeutung erfahren. Heute steht sie gleichsam stellvertretend für alles, worauf Europa stolz ist. Sieht man sie, so denkt man nicht nur an die Wurzeln der Philosophie, des Theaters und der Rhetorik, sondern vor allem an die der Demokratie.

Fragt man nun aber einen an jener Debatte beteiligten Griechen, was er sieht, wenn er den Parthenon erblickt, so würde er wahrscheinlich antworten: Eine leere Hülle. Eine Leinwand ohne Farbe. Denn der künstlerisch interessanteste Teil des Baus, der Bauschmuck, befindet sich zu seinem größten Teil nicht mehr in Athen, nicht einmal mehr in Griechenland, sondern nirgendwo anders als in London, genauer: Im Britischen Museum. Und um eben diesen Bauschmuck dreht sich eben jene Debatte, deren Kernproblem so leicht mit wenigen Worten zu umreißen ist, deren Fronten deswegen jedoch um keinen Deut weniger verhärtet sind: Die Griechen fordern die Rückgabe, die Briten denken nicht daran.

Bei einer Aufzählung dieser, aus Gründen auf die ich noch eingehen werde, auch als Elgin-Marbles bezeichneten, sich in London befindlichen Teile des Bauschmucks, kann einem schwindlig werden. Ca. 28 Meter breit und an ihrer höchsten Stelle circa 3,5 Meter hoch waren die zwei dreieckigen Giebelfelder an der Ost- und der Westseite des Baus. Von der entstehenden Fläche wurde fast jeder freie Zentimeter von der detailverliebten Darstellung mythischer Ereignisse in Besitz genommen - der Kampf der Götter Poseidon und Athena um die Landschaft Attika im Osten, die Geburt der Stadtgöttin Athena aus dem Haupt ihres Vaters Zeus im Westen. Was von diesen prächtigen Kunstwerken noch erhalten ist, befindet sich heute fast ausschließlich in London.

Eine Metope ist eine sich durch die strengen Regeln antiker griechischer Baukunst erklärende quadratische freie Fläche unterhalb des Daches, die oftmals, wie im Falle des Parthenons, ebenso wie die Giebel nicht etwa einfach leer blieb, sondern figürlich ausgestaltet zur Dekoration des Baues benutzt wurde. 92 dieser Flächen besaß der Parthenon einmal rings um seinen Bau herum. Im Osten stellten sie den Kampf der Götter mit den Giganten dar – diese Metopen sind noch am Bau, aber stark, größtenteils bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Den Westmetopen, die einen Kampf gegen Amazonen illustrieren, geht es wie ihren östlichen Pendants. Im Norden des Baus hat der Zahn der Zeit den die Zerstörung Trojas darstellenden Metopen am meisten zugesetzt – hier ist weniger als die Hälfte überhaupt erhalten und diese wiederum sehr schlecht. Nur im Süden meinte das Schicksal es gut mit ca. der Hälfte der Metopen, welche hier einen Kampf gegen Zentauren darstellen. Diese 15 exzellent erhaltenen Exemplare befinden sich in London.

Um das Innere des Parthenons, die so genannte Cella, lief ursprünglich ein aus 115 Platten bestehender etwa 160 Meter langer Fries, der eine Prozession zu Ehren der Göttin Athena darstellte. Ohne weit ins Detail gehen zu können, sei angemerkt, dass dieser Fries den Parthenon schon in der Antike vor vergleichbaren Bauten auszeichnete, sprengte seine Verwendung doch unbedarft Jahrhunderte alte Ketten. Ein Großteil seiner Platten ist uns erhalten geblieben. Allerdings befinden sich nur noch die von der Zeit stiefmütterlich behandelten davon in Athen. In London aber prangen dafür 56 sehr gut erhaltene Stücke.

Bevor wir uns nun den Argumenten pro und contra der Rückgabe der Elgin-Marbles zuwenden, sei schließlich noch durch einen kurzen geschichtlichen Exkurs die Frage beantwortet, wie sie überhaupt ihren Weg nach London fanden. Wir schreiben das Jahr 1801. Thomas Bruce der 7. Earl of Elgin bekleidet das Amt des Botschafters der britischen Krone an der sogenannten "Hohen Pforte", also dem Herrschaftssitz nicht etwa des griechischen, sondern des osmanischen Reiches, seinerseits ansässig in Istanbul. Griechenland selbst ist, und das ist wichtig im Hinterkopf zu behalten, zu dieser Zeit kein eigenständiges Land, sondern nur ein vergleichsweise kleiner Teil des osmanischen Großreiches. Seine kulturellen Schätze sind dementsprechend für den orientalischen Herrscher uninteressanter, als für unseren abendländischen Lord, für den es daher kein Problem ist, jene Erlaubnis vom Sultan zu erhalten, die er daraufhin so großzügig auslegt. Anstatt nämlich die Athener Akropolis nur genauer zu untersuchen und Zeichnungen sowie Gipsabgüsse anzufertigen, nimmt er die besagten Originale mit in sein Heimatland, wo sie zunächst ein Teil seiner Privatsammlung werden. Als er dann aber, wie das auch, oder vielleicht gerade einem waschechten Dandy dieser Zeit passieren kann, etwa fünfzehn Jahre später in akute Geldnot gerät, bietet er die Marbles dem Britischen Museum zum Kauf an. Dies verursacht zuerst zwar durchaus eine lange Diskussion unter den Verantwortlichen, während derer Elgins Tat sogar als ein "himmelschreiender Akt der Plünderung" bezeichnet wird, doch ist das Angebot schlussendlich einfach zu großartig um abgelehnt zu werden.

Widmet man sich nun den Argumenten der jeweiligen Parteien, so sind es natürlich die eben dargestellten Fakten, die als allererstes ins Feld geführt werden. Elgins Tat sei nach heutigem Recht als nichts anderes zu bezeichnen, als ein gemeiner Kunstraub, weswegen die illegal in London verweilenden Marbles selbstverständlich ihren rechtmäßigen Besitzern zurückgegeben werden müssten.

Doch bereits hier beginnt das Gerüst der Argumente zu wackeln. Denn zu der damaligen Zeit existierte der Tatbestand des Kunstraubes noch nicht. Womit es also genau genommen unserer freiheitlichen Grundordnung widerspräche, Lord Elgin eines Verbrechens zu bezichtigen, gegen das es damals noch überhaupt kein Gesetz gab. Nach dem britischen Recht seiner Zeit tat er nämlich nichts weiter, als ein paar, zugegebener Maßen sehr voluminöse Souvenirs mit nach Hause zu nehmen. Gegen griechisches Recht wiederum konnte er überhaupt nicht verstoßen, da ein solches noch nicht existierte. Streng genommen handelte er also ausschließlich gegen jenes Abkommen mit dem osmanischen Reich – also gegen das Recht eines Reiches, welches heute wiederum in dieser Form nicht mehr existiert. Doch auch wenn wir diese vielleicht etwas verwirrende rein rechtliche Ebene verlassen, ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die Marbles mindestens bis in die 1960er hinein Jahre in London eine wesentlich bessere Behandlung erhielten, als dies in Athen der Fall gewesen wäre. Ein kurzer Blick auf die dort verbliebenen Objekte bestätigt diese These. Saurer Regen und Smog tobten sich noch ca. 150 Jahre länger ungehindert an diesen Kulturschätzen aus, bis sie ebenfalls ins Trockene geholt wurden.

"Alles Schnee von Gestern", erwidern hierauf allerdings die heutigen Griechen und verweisen stolz auf die demonstrativ leer stehende Halle ihres brandneuen im Jahre 2009 fertiggestellten Akropolismuseums, die nur noch auf die Marbles wartet und in der diese inmitten ihres natürlichen Kontextes vor allem auch zahlungswilligen Touristen präsentiert werden könnten, derer das Land heute mehr denn je bedarf, um seine zerschundene Wirtschaft zu restaurieren. Außerdem stehen sie mit der Meinung, dass die Marbles zurück nach Athen und nirgendwo anders hin gehören, auch keinesfalls allein da, sondern haben in mittlerweile immerhin 34 Staaten Bürgerinitiativen auf ihrer Seite. Dessen jedoch noch nicht genug, sprachen sich in einer Umfrage zuletzt sogar ca. zwei Drittel aller befragten Briten eindeutig für eine Rückgabe der Marbles aus – wie viele von diesen allerdings genauer mit den Feinheiten der Problematik vertraut sind, ist eine andere Frage.

Denn Fakt ist ebenso, dass die Marbles ihre nicht zu unterschätzende Wirkung auf die europäische Kunst und Kultur nicht etwa von Griechenland, sondern von England aus entfalteten, womit sie innerhalb der vergangenen nicht weniger als 200 Jahre auch ein Teil der britischen Kultur geworden sind.

Doch ist das wirklich dasselbe wie, wie manche Briten behaupten, bei jenen einst von den Römern geraubten und nun seit über 2000 Jahren in Rom verweilenden gewaltigen Obelisken, die heutzutage definitiv mehr ein Teil italienischer als ägyptischer Geschichte sind? Zumindest kämen nicht einmal die Ägypter auf die Idee, diese zurück in ihr Land bringen zu wollen. Was von ihnen jedoch durchaus zurückgefordert wird, ist die berühmte, seit nunmehr ebenfalls 100 Jahren in Berlin verweilende Büste der Nofretete und das obwohl diese einst rechtmäßig erworben wurde. Viel mehr dreht sich der Streit hierbei darum, dass man in Ägypten behauptet, damals um den wahren Wert der Büste getäuscht worden zu sein.

Die Korrektheit dieser Behauptung einmal dahingestellt, illustrieren diese zwei weiteren Beispiele imposant, dass Rechtmäßigkeit im Falle des Besitzes von Kunst und Kulturgut ein durchaus variabler Wert ist. Ein Einzelfall sind die Elgin-Marbles trotz ihrer Prominenz jedenfalls bei weitem nicht und so wird voraussichtlich noch lange darüber diskutiert werden, wann und mit welcher Berechtigung ein Staat sich als Besitzer aus einem anderen Land stammender Objekte bezeichnen darf.

Zum aktuellen Stand der Diskussion und anderen ähnlichen Fällen: elginism.com

Weiterführende Literatur:

  • J. Boardman, Greek Sculpture. The Classical Period (London 1985)
  • J. Boardman, The Parthenon and its sculptures (London 1985)
  • W. St. Clair, Lord Elgin and the Marbles (London 1967)