Das Alte Ägypten und der Fluss

Wie der Nil die Entwicklung der Hochkultur beeinflusste

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Einleitung

Seit dem Abklingen der letzten Eiszeit vor 20.000 Jahren wird Afrika von einer tiefgehenden Austrocknung überzogen, die die Nordhälfte des Kontinents bereits fast völlig erfaßt hat. Heute, am Beginn des 3. Jahrtausends n.Chr., rechnen der Südwesten Ägyptens sowie der anschließende Nordteil des Sudans zu den wasserärmsten Regionen der Erde. Das überregionale Verschwinden lebensfreundlicher Feuchtareale sowie die hiermit verbundene Ausbreitung lebensbedrohender Desertifikation nötigt den Menschen immer wieder, bewährte Existenzstrategien zu überdenken, zu ändern oder gar zu verwerfen, um alternative Lebensweisen zu entwickeln, an die er die Hoffnung der Erhaltung des gesellschaftlichen und kulturellen Status quo, des familiären Bestandes oder auch nur des einfachen Überlebens knüpft. Die Geschichte des Menschen in Nordafrika wird beherrscht von der intensiven Auseinandersetzung mit dieser Problematik. Das dichte Spannungsfeld, das sich hier zwischen dem Menschen und seiner von Aridisierung und Desertifikation heimgesuchten Umwelt aufbaut, ist das zentrale Thema des Sonderforschungsbereiches 389 der Universität zu Köln"Kultur- und Landschaftswandel im ariden Afrika". Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen gehen hier Fragestellungen nach, mit denen die Ursächlichkeit und der Verlauf der klimatischen Prozesse geklärt und die menschliche Reaktion hierauf erfaßt werden kann.

In Nordafrika nimmt die ägyptische Niltaloase eine Sonderstellung ein. Der Mensch nutzt sie ab ca. 3000 v.Chr. nicht nur als "bloßen" Lebensraum, sondern entwickelt eine Kultur, deren Denkmäler einen in der Menschheitsgeschichte außergewöhnlichen Reichtum in materieller wie ideeller Hinsicht repräsentieren. Die besondere Stellung der Altägyptischen Kultur inmitten einer ariden Umwelt wirft Fragen nach den Gründen ihrer Entstehung sowie ihres bemerkenswert langen Fortbestehens auf. Warum z.B. entsteht die Kultur zu einem Zeitpunkt vor etwa 5000 Jahren? Warum entsteht sie gerade am Unterlauf des Nils? Warum kommt es überhaupt zu ihrer Geburt? Wir sind heute weit davon entfernt, alle Aspekte solch grundsätzlicher Fragen beleuchten oder gar endgültige Antworten liefern zu können. Doch ermöglicht die Untersuchung des Verhältnisses zwischen dem Umweltraum des Niltals und dem Menschen, der ihn besetzt, neue Einsichten.

Der landschaftliche Kernbereich der Altägyptischen Kultur ist in dem von regelmäßigen Wasserzuflüssen gespeisten Landstrich zu sehen, den der Nil in seinen unteren Verläufen ab 24°N aus den Wüsten Nordafrikas ausgrenzt. Bis zur Mittelmeerküste entwickelt der Strom eine gigantische Oase, die in alter Zeit keineswegs jenes weitgehend gleichmäßige Landschaftsbild aufweist, das sich dem heutigen Besucher aufgrund der veränderten Wasserlaufsituation sowie des Einsatzes moderner Agrartechnologien bietet. Die Sonderstellung des Landes in der Antike gründet im wesentlichen auf der Überschwemmungssystematik des Nils. Die Zuflüsse des "Weißen Nils", gespeist durch regelmäßige Niederschläge in Zentralafrika, garantieren die jährliche Konstanz des Wasserflusses. Die kurzzeitigen Monsunregen, die in den Sommermonaten im Hochland Äthiopiens niedergehen, gelangen über den "Blauen Nil" sowie den Atbara in die Wasserlaufsystematik und führen zu einem starken zwischenzeitlichen Anstieg des Nilpegels. Für die Dauer von etwa drei bis vier Monaten, im Regelfall Ende Juli bis Ende Oktober unseres Kalenders, verwandelt sich das Bild des ägyptischen Niltals von einer Fluß- in eine Seenlandschaft. Infolge der Errichtung großer Staudämme und umfangreicher Kanalisierungen haben sich diese Verhältnisse vor allem mit Beginn des 20. Jahrhunderts grundlegend verändert.

Das Ökosystem Niltal

Das Niltal des Alten Ägypten, dessen Besonderheit auf dem innerjährlichen Wechsel zwischen Flußtal und Seenplatte basiert, verfügt über eine differenzierte Binnenstruktur, die die Nutzung seitens des Menschen seit Beginn der Ägyptischen Kultur vor ca. 5000 Jahren nachhaltig beeinflußt. Die Flußoase ist aus Komponenten zusammengesetzt, bei denen es sich sozusagen um "Landschaftsbausteine" handelt. Sie dienen der Forschung als Größen zur Erfassung des Landschaftsraumes sowie der in ihm anzusetzenden Vorgänge.

Im Zentrum der Flußoase verlaufen die Haupt- und Nebenwasseradern des Nils. Je nach Region erreicht das von ihnen gebildete Wasserlaufsystem einen unterschiedlichen Komplexitätsgrad. In Oberägypten ist es im wesentlichen eine einzige Hauptader, die das hier verhältnismäßig schmale Tal mit Wasser versorgt. Die Zahl der Seitenarme bleibt noch deutlich hinter den nördlichen Gebieten zurück. Im nördlichen Oberägypten, heute auch als "Mittelägypten" bezeichnet, tritt ergänzend der Bahr Yussuf hinzu, der als wichtigster Ableger des Hauptstromes zwischen al-Qusija und Dairut von ihm abzweigt und ca. 180 km parallel verläuft, bevor er nach Westen abknickt und seine Wasser an die ausgedehnten Sümpfe des Fajums abgibt.

Etwa ab 30ºN entfaltet der Nil eine ausgedehnte Mündungslandschaft, die im Alten und Mittleren Reich (ca. 2600-1800 v.Chr.) von bis zu sieben Hauptarmen durchzogen wird. Diese Wasseradern, die an Mächtigkeit kaum hinter ihrem oberägyptischen Mutterlauf zurückstehen, neigen stets zur Bildung weiterer Abgänge, bevor sie schließlich den aus Schlamm- und Sandbarrieren bestehenden Küstenstreifen durchstoßen und ins Mittelmeer münden. Neben diese Hauptarme treten zahllose Nebenläufe, die sich vor allem im fortgeschrittenen Teil des unterägyptischen Stromsystems bilden und die starke Tendenz haben, ihrerseits Ableger zu erzeugen. So entsteht ein Gewirr von Unterarmen, die sowohl untereinander als auch mit den Hauptarmen auf das Engste vernetzt sind. Manche dieser Wasserläufe versickern im Boden; andere etablieren sich als Zuflüsse von Tümpeln, Seen und Sümpfen.

Das Wasserlaufsystem leitet die Fluten des Nils von den verschiedenen Quellgebieten bis in die Mündungsregionen. Entsprechend seiner Differenzierung verläuft dieser Prozeß nicht gleichmäßig, sondern weist gebietsabhängige Eigenschaften auf. Die durchschnittliche Talbreite, die von den sommerlichen Fluten bestrichen wird, steigt von den Zuflüssen des "Blauen Nils" und des Atbara bis hin zur Mündung in Unterägypten in mehreren Sprüngen an. Die Wasserverteilung erfolgt also nicht über eine kontinuierliche Flächenvergrößerung. Die Talbreite in Oberägypten übersteigt die des sudanesischen Nils, hier gerechnet bis zum Gebel es-Silsile, durchschnittlich um etwa das 2-3fache. Innerhalb Oberägyptens wiederum verbreitet sich die Wasserauffangfläche, grob anhand der Talbreite erkennbar, von ca. 5-6 km im Großraum um den charakteristischen Nilknick bei Qena auf etwa 20 km in einem Gebiet von Nag Hammadi bis Beni Suef (Fajum nicht eingerechnet). In Unterägypten schließlich steigt die Fläche möglicher Wasseraufnahme noch einmal stark an, so daß man hier im strengen Sinne nicht mehr von "Tal" sprechen kann. Die Spitzenwerte der Deltabreite liegen bei ca. 150 km und erreichen damit das 5-6fache der oberägyptischen Verhältnisse. Der Eigenweltcharakter der ägyptischen Niltaloase ist somit nicht nur durch die überreiche Versorgung mit Wasser, sondern auch durch dessen gebietsabhängige Verteilung bedingt. Im Vergleich mit dem Sudan verfügt Ägypten über eine größere Aufnahmefläche für das durchzuleitende Wasser bei einer geringeren Wasserfließgeschwindigkeit und -tiefe. Auch wenn die exakte Beurteilung der Verhältnisse weitere Komponenten wie das Gefälle des Flusses oder seine Mäandrierung berücksichtigen muß, darf als Faustregel formuliert werden: Je weiter der Nil "sich" nach Norden "bewegt", desto weniger Wasser transportiert er umso langsamer bei zunehmend geringeren Wassertiefen.

Im direkten Anschluß an die breiten Hauptströme des Nils befinden sich Uferdämme. Ihnen treten Gazîras (arab. für "Inseln") bei, die in weiterer Entfernung zu den aktuellen Wasserläufen liegen und sich geologisch aus Uferdämmen entwickelt haben. Bei diesen Komponenten handelt es sich um Festbodenzonen im Zentrum der Oase, die über ein im Verhältnis zum direkten Umland erhöhtes Bodenniveau verfügen, was verhindert, daß sie von den jährlichen Fluten betroffen sind. Uferdämme und Gazîras sind trotz der Überschwemmungen, von deren Wassern sie umspült werden, nur geringen Veränderungen unterworfen. Ihre Festigkeit ist so ausgeprägt, daß sie die Wasseradern und insbesondere das historische System der Mündungsarme maßgeblich beeinflussen. Denn sie bieten den Fließwassern selbst der Hauptarme ein so starkes Hindernis, daß diese, um weiter abfließen zu können, in benachbarte Areale ausweichen und die Dämme umströmen.

Die Überschwemmungsgebiete der historischen Epochen, die sich beiderseits der Hauptströme erstrecken, nehmen den größten Flächenanteil der Flußoase ein und bilden im strengen Sinne das fruchtbare Land Ägyptens. Das Bodenniveau dieser Areale fällt gegenüber den Uferdämmen und Gazîras allmählich ab und unterschreitet den Nilpegel der Flutzeiten, sodaß die Wasser saisonal auf diese ausweichen und sie überschwemmen. Im Unterschied zu Uferdämmen und Gazîras sind die Alluvialgebiete von der Flutsystematik des Nils direkt betroffen, dienen sie doch als gigantische Auffangbecken der enormen Wassermengen, die der Strom infolge der jahreszeitlich bedingten Regen seiner Quellregionen nach Norden abführt. In antiker Zeit steigt der Nilpegel in Ägypten etwa ab Mitte Juli an, und es kommt zu den vom Menschen stets erwarteten Fluten. Während dieser Zeit, deren Länge von Region zu Region unterschiedlich ausfällt und die, auf das ganze Land hin gesehen, zwischen einem und fünf Monate andauert, verwandelt sich die Flußlandschaft in eine ausgedehnte Seenplatte, deren gleichmäßiges Erscheinungsbild von den sich allenthalben aus den Wassern erhebenden Dämmen und Inseln unterbrochen ist.

Uferdämme, Gazîras und Alluvialgebiete finden sich sowohl in Ägypten als auch im Sudan. Der Unterschied zwischen beiden Regionen liegt in der Quantität dieser Komponenten. Wie sich bereits in der Talbreitenentwicklung andeutete, ist das Wasseraufnahmevolumen der Alluvialgebiete in Ägypten um ein Vielfaches höher als im Sudan. Damit hängt zusammen, daß auch die Anzahl der Uferdämme und Gazîras in Ägypten deutlich größer ausfällt als in den südlichen Regionen. Ägypten bietet also nicht nur ein wesentlich größeres Angebot an Überschwemmungsflächen, sondern auch an dauertrockenen Arealen in ihrem Inneren.

Brackwasser- und Dauersumpfgebiete sind dauergeflutete Regionen, die sich in Randlagen der ägyptischen Flußoase erstrecken. Aufgrund umfassender Wasserregulierung durch Staudämme und Kanalisierung existieren sie heute nur noch in geringem Maße. Was ihre Ausdehnung betrifft, so bleiben sie merklich hinter den Alluvialgebieten der historischen Epochen zurück. Die Wasserversorgung erfolgt über zutage tretendes Grundwasser, da Dauersümpfe gegenüber den vorgelagerten Überschwemmungsflächen ein abgesenktes Bodenniveau aufweisen. Grundwasser ist hauptverantwortlich für den dauergefluteten Zustand dieser Marschen und führt entsprechend zur Ausbildung einer üppigen und dicht wachsenden Sumpfvegetation. Dauersümpfe unterscheiden sich vornehmlich in zwei Punkten vom eigentlichen Wasserlaufsystem des Nils: Erstens werden sie überwiegend von stehenden Gewässern besetzt; zweitens weisen sie vergleichsweise geringe Wassertiefen auf, was seinerseits ursächlich für eine langanhaltende Erwärmung ist. Damit sind die wichtigsten Voraussetzungen für die überreichen Vegetationsprozesse von Nymphaeaceae ("Lotos") und Cyperaceae ("Papyrus") genannt, den bedeutendsten Florenvertretern dieser Gebiete und Symbolpflanzen des Alten Ägypten.

Die Grenzen der ägyptischen Flußoase werden im Osten wie im Westen durch ausgedehnte Steppen und Wüsten abgesteckt. Diese weitestgehend trockenen Welten sind nicht selbst Bestandteil des besonderen Landschaftsraumes der Niltaloase. Dennoch spielen sie als Lebensraum einer auf den "zweiten" Blick bemerkenswert vielfältigen Fauna eine wichtige Rolle für den Menschen des Niltals. Wahrscheinlich steht auch der Wandel der Wüsten mit der Ausbildung der Altägyptischen Kultur in engem Zusammenhang.

Landschaft und Ökonomie

Neben dem Wasserreichtum der Flußlandschaft ist es vor allem ihre Binnenstruktur, die sich in hervorragendem Maße für die Nutzung durch den Menschen eignet. Entsprechend ist das ökonomische System der Kultur präzise auf den Landschaftsraum ausgerichtet. Vereinfacht kann dieses System mit den Faktoren "Siedlung/Nekropole", "Landwirtschaft" und "Logistik" beschrieben werden, wobei die Nekropolen als die wesentlichen Träger archäologischer Informationen die Ausgangspunkte der wissenschaftlichen Rekonstruktionen bilden. Siedlungen sind die organisatorischen Zentren der ökonomischen Aktivitäten. Die landwirtschaftlichen Arbeitsabläufe nehmen hier ihren Ausgang und laufen hierher zurück. Die Wege- und Transportsystematik erlangt umso mehr Bedeutung, je höher die Volumina der zu bewegenden Güter und je größer die zu überbrückenden Distanzen ausfallen.

Während der historischen Epochen ab ca. 3000 v.Chr. werden Siedlungen vorwiegend auf Uferdämmen und Gazîras angelegt. Dies hat zwei Gründe: Erstens handelt es sich um Flächen, die nicht von der jährlichen Nilflut überspült werden. Als dauertrockene Areale bieten sie den Menschen ständige Rückzugs- und Wohnmöglichkeiten. Zweitens verfügen gerade die Uferdämme aufgrund ihres Direktanschlusses an die Wasseradern des Nils über eine verkehrsstrategisch günstige Lage. Dies ist deswegen von Bedeutung, da vornehmlich der überregionale Warentransport innerhalb Ägyptens ausschließlich per Schiff abgewickelt wird. Für die Siedlungsgründung werden wie schon in prähistorischen Zeiten weiterhin auch die Übergangsbereiche zwischen Wüste und Flußtal genutzt, obgleich diese Lage gerade für den innerägyptischen Warenverkehr erhebliche Standortnachteile mit sich bringt.

Unsere Vorstellung des Alten Ägypten wird nachhaltig von den Gräberfeldern und Nekropolen beeinflußt. In alter Zeit befinden sich diese durchweg am Wüstenrand. Sie sind stets an eine oder mehrere in der Nähe befindliche Siedlungen angeschlossen und werden von diesen mit Waren und Materialien versorgt. Siedlungen besetzen Innenlagen, Nekropolen dagegen Randlagen der Niltaloase. Die Menschen nutzen also die Enge ihres Lebensraumes in höchst ökonomischer Weise, indem sie die Gebiete im Zentrum des Tales dem Betrieb von Siedlungen und der landwirtschaftlichen Nutzung vorbehalten, die Bestattungszonen dagegen in die am Rande liegenden Wüstenregionen verweisen.

Für die lokale Festlegung der heiligen Stätten sind darüber hinaus direkte Wirtschaftlichkeitserwägungen verantwortlich. In der Wüste befindliche Felsplateaus kleineren Ausmaßes eignen sich z.B. als Kern für die Errichtung einer Pyramide; in der Wüste liegen auch die Steinbrüche, in denen die Hauptmasse des erforderlichen Baumaterials gewonnen wird. Dies etwa ist die Situation der gigantischen Residenznekropole des Alten Reiches nahe Kairo, in der berühmte Könige wie Cheops und Chephren ihre Grabkomplexe errichten lassen. In weiten Teilen Oberägyptens nutzt man die Felsabhänge der an das Flußtal heranreichenden Wüste, um aus ihnen die Kammern der Kult- und Bestattungskomplexe auszuhöhlen.

Die für das Alte Ägypten typische Nekropolenlage am Rande der Wüste hält also nicht nur die landwirtschaftlichen Nutzflächen im Inneren der Oase frei. Sie bringt auch den Vorteil, daß die im Steinbau anfallenden logistischen Vorgänge zwischen Materialgewinnung und -verbau deutlich reduziert werden.

Aufgrund einer günstigen Quellenlage sind wir imstande, die altägyptische Landwirtschaft in ihrer Gesamtheit zu überblicken. Sie basiert auf fünf Zweigen. Hohe Ertragsvolumina liefern Ackerbau, "Marschen-" und "Wildtierwirtschaft"; Garten- und Gemüsebau sowie Holzabbau spielen demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle. Ackerbau wird auf den Alluvialflächen des Flußtales betrieben. Angebaut werden Gerste, Emmer und Flachs. Die erstgenannten Getreidearten bilden einen wichtigen Faktor in der Nahrungsmittelproduktion; darüber hinaus fungieren sie als wichtiges Mittel der Entlohnung. Flachs liefert den Hauptrohstoff zur Textilienherstellung. Charakteristisch für die Arbeitsprozesse des Ackerbaus sind die kurzen Entfernungen, die sich zwischen den Siedlungen und den Alluvialflächen erstrecken. Dies ermöglicht die Bewegung der notwendigen Arbeitskräfte und Materialien in zeitlich unproblematischen Intervallen. Der Abtransport des Erntegutes von den Anbauflächen erfolgt stets mit großen Eselherden, deren Einsatz für den Forscher zum Indikator des Volumens der hier bewegten Lasten wird. Der hohe Anteil der Alluvialgebiete an der Gesamtfläche des fruchtbaren Landes trägt erheblich dazu bei, daß sich der Ackerbau zum wichtigsten Wirtschaftszweig entwickelt. Es ist davon auszugehen, daß etwa zu Beginn des Alten Reiches um 2600 v.Chr. die produktionsintensiven Zweige Ackerbau, "Marschen-" und "Wildtierwirtschaft" bezüglich der Mengen vegetativer Rohstoffe in etwa gleichberechtigt nebeneinander stehen. Mit voranschreitender Zeit verlagern sich die Verhältnisse stark in Richtung Ackerbau, während die Produktionsvolumina der anderen Zweige zurückgeht.

Während der Ackerbau im 5. oder 4. Jahrtausend v.Chr. nach Ägypten importiert wurde, ist die sog. Marschenwirtschaft eine genuin ägyptische Entwicklung, da ausgedehnte und damit ökonomisch relevante Dauersümpfe in Nordostafrika seit etwa 3200 v.Chr. nur noch in Ägypten existieren. Der anfällige Wirtschaftszweig beinhaltet alle Ereignisse und Tätigkeiten, die der Ausbeutung sowie Nutzung der in Brackwasser- und Dauersumpfgebieten vorhandenen Ressourcen dienen. Er gliedert sich in vier Unterbereiche: Ausbeutung des Pflanzenbestandes (u.a. Papyrusernte), Viehhaltung, Vogelfang, Fischfang. Abhängig von den jeweiligen Flutverhältnissen weist aber jede Sumpfregion eigene landschaftliche Bedingungen auf, an die die jeweils zu absolvierenden Arbeitsabläufe angepaßt werden. In Oberägypten etwa zeigt der Vogelfang andere Formen als in den Nordsümpfen des Deltas; eben dort wird erkennbar, daß die Viehzucht auf anderen Rinderrassen als in den südlichen Regionen basiert.

Die allgemeine zeitliche Linie, der die Marschenwirtschaft folgt, ist indes klar. Die hier zu absolvierenden Tätigkeiten sind stets jahreszeitlich gebunden, was sie in eine direkte Abhängigkeit zur Überschwemmungssystematik des Nils bringt. Dies wiederum hat wie schon beim Ackerbau zur Folge, daß man die Arbeiten in den verschiedenen Regionen Ägyptens mit einer zeitlichen Versetzung durchführt. Die Flut beeinflußt vor allem die Nutzungszeiten der Sumpfgebiete. So sind z.B. die Nordsümpfe in wesentlich geringerem Maße von den wechselnden Wasserständen betroffen als die oberägyptischen Areale. Aus diesem Grund ergeben sich am äußersten Nordrand Ägyptens auch deutlich längere Aufenthalts- und damit Arbeitszeiten.

Die hohe Bedeutung des Wirtschaftszweiges deutet sich in seinen komplexen Organisationsformen an. So müssen etwa für die Erschließung geeigneter Arbeitsfelder im Vorhinein umfangreiche Jagden veranstaltet werden, bei denen man die ansässigen Flußpferdpopulationen vertreibt, die anderenfalls die eigentlichen Arbeitsprozesse erheblich stören würden. Des weiteren errichtet man eigene Zwischenlager am Rande der Sümpfe, in denen man u.a. Beute- und Erntegut sammelt und sortiert, Werkzeuge erstellt und repariert sowie die Mahlzeiten für die Arbeitstrupps zubereitet. Zum Vogelfang müssen ausgedehnte Geländeabschnitte, die sog. Vogelherde, eigens ausgebaut werden; sodann wird ein komplizierter Fangmechanismus aufgestellt, zu dessen Bedienung bis zu zehn Personen notwendig sind. Schließlich sei noch auf die Viehtriebe verwiesen, bei denen Rinderherden in hohen Stückzahlen über Strecken von etwa 10-20km bewegt werden. Am Rande sei erwähnt, daß die ägyptische Viehhaltung bis etwa 1900 v.Chr. zu großen Teilen auf einer Rinderrasse mit hohem Wasserbedarf aufbaut, so daß den Dauersümpfen für Hege und Zucht dieser Tiere eine wichtige Rolle zufällt. Die Fleischversorgung der Kultur ist also bis zu einem gewissen Grad von diesen dem modernen Betrachter unwirtlich erscheinenden Regionen abhängig. Der Viehtrieb wiederum führt uns zu der umfangreichen Transport- und Kontrollogistik, die notwendig wird, um die Höhe der erwirtschafteten Rohstoffe und Materialien festzuhalten bzw. dieselben sicher in die Siedlungen abzutransportieren und von diesen wiederum in die Residenzen weiterzuleiten.

Das Bild, das wir uns aufgrund der Überlieferung von der Marschenwirtschaft machen können, zeigt, daß die Arbeitsprozesse keineswegs auf das eng begrenzte Umfeld einer einzigen Siedlung beschränkt bleiben. Vielmehr kooperieren ökonomisch orientierte Erzeugungs- und Produktionsverbünde mit dem vornehmlichen Ziel, hohe Mengen der in den Sümpfen lagernden Rohstoffe zu erwirtschaften.

Noch in den historischen Epochen bieten die Steppen- und Wüstengebiete beiderseits der Niltaloase großen Wildtierherden ausreichenden Lebensraum. Die Jagd auf diese Tiere, insbesondere auf die Vertreter der diversen Gazellen- und Antilopenarten, hat in der ägyptischen Geschichte einen Organisationsumfang sowie ein Ertragsvolumen erreicht, die sie auf eine Stufe mit Ackerbau und Marschenwirtschaft stellt. Da man die Tiere nicht nur direkt tötet, sondern auch in großen Stückzahlen fängt und lebend in die Siedlungen der Flußoase verbringt, in denen sie zumindest für einen kürzeren Zeitraum vorgehalten werden sollen, sprechen wir von Wildtierwirtschaft. Ihre zentrale Organisationsform ist die Expedition. In der Regel ziehen Trupps mit zwei- bis dreistelligen Personenzahlen auf die fraglichen Unternehmungen. Aus der Datenfülle, die die betreffenden Quellen der modernen Auswertung anbieten, sei hier ein Detail herausgegriffen, das in besonders klarer Weise die Höhe des Material- und Organisationsaufwands veranschaulicht. Die eigentlichen Jagd- und Fangvorgänge finden zumeist in einem sog. Gehege statt. Es handelt sich um ein Areal, das mit Hilfe von Gattern und Zäunen aus der Steppen- und Wüstenumgebung ausgegrenzt wird. Die Höhe der Umzäunungen liegt deutlich über der Körpergröße eines durchschnittlich gewachsenen Mannes. Ein Indiz für die räumliche Erstreckung dieser Gehege liegt in der Tatsache, daß in den betreffenden Quellen zur Jagd eine Selektierung nach bestimmten Tierarten nicht zu erkennen ist. Keineswegs wird also die eine Tierart innerhalb des Geheges gefangen, die andere hingegen außerhalb gejagt. Das abgesteckte Terrain ist vielmehr so groß, daß man mit guten Erwartungen daran geht, die gesamte Palette der Wüstenfauna innerhalb des Geheges abzufangen.

Landwirtschaftliche Produktion, die auf hohe Mengen hin angelegt ist, kommt nicht ohne hinreichend organisierte Verwaltungsbasis aus. Hervorgebrachte Güter, insbesondere Nahrungsmittel, die nicht zur direkten Weiterverwendung vor Ort bestimmt sind, müssen erfaßt und verbucht werden. Die Existenz einer Verwaltung unterstreicht in Verbindung mit der Differenzierung ihrer Struktur den Umfang des ökonomischen Betriebes, in den sie eingebunden ist. Tatsächlich gibt es in den Quellen nur wenige Fälle, in denen die betreffenden Vorgänge nicht festgehalten sind. Fast immer sind der Arbeitsprozeß und der dazugehörige Verwaltungsakt auch in der Überlieferung miteinander verquickt. Das vorgestellte Beispiel entstammt zwar der Wildtierwirtschaft, steht aber in seiner Verbindung von eigentlich zugreifendem Prozeß mit zugehörigem Verwaltungsvorgang bei gleichzeitiger Information über die zu bewegenden Volumina stellvertretend für alle Wirtschaftszweige. Das Jagdszenarium aus einem Grab in Beni Hasan thematisiert im linken Abschnitt den Jagdvorgang; am rechten Rand befinden sich ergänzend die Figuren der beiden "Verwaltungsangestellten", deren Aufgabe u.a. die Erstellung der Streckenliste ist. Wie aus den Einträgen hervorgeht, wurden während der erfaßten Expeditionen neben einer nicht genannten Zahl von Säbelantilopen und Steinböcken auch 310 Wildstiere, 3300 Hyänen, 3500 Kuhantilopen und die beachtenswert hohe Menge von 12010 Dorkasgazellen eingebracht.

Zur Abrundung folgen einige grundsätzliche Anmerkungen zur Logistik. Die problemlose Bewegung hoher Gütermengen ist essentiell für den reibungslosen Ablauf des ökonomischen Gesamtsystems. Die breiten und strömungsintensiven Hauptwasseradern des Nils, die auch in Unterägypten den Charakter eigenständiger Flüsse haben, stellen seit frühgeschichtlicher Zeit die wichtigsten Verkehrswege innerhalb der Flußoase dar. Sie bieten ausreichende Wassertiefen für den Einsatz großer Ruder- und Segelschiffe, mit denen Güter nicht nur in großen Mengen und Stückzahlen, sondern auch über lange Strecken hinweg transportiert werden. Entsprechend können die meisten Siedlungszentren Ägyptens von überregionaler Bedeutung mit Frachtschiffen angesteuert werden. Andererseits stellen die breiten Wasserstraßen erhebliche Hindernisse für die Fortbewegung auf dem Landweg dar, was zwar für die Siedlungen, die an ihnen liegen, eine gewisse Schutzfunktion mit sich bringt, Teilen der landwirtschaftlichen Nutzer des Geländes aber erhebliche Probleme in logistischer Hinsicht bereitet. Aufgrund der ausgedehnten Breite des Flußbettes, seiner großen Wassertiefe und vor allem der nicht zu unterschätzenden Strömungsintensität ist es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, eine Hauptwasserader bzw. einen von dieser direkt abzweigenden Flußlauf ohne Schiff oder Boot zu überqueren. Dieser Sachverhalt dürfte in bestimmten Wirtschaftszweigen den Verlauf des An- bzw. Abtransportes der Güter erheblich beeinflussen. So muß man etwa bei den umfangreichen Viehtrieben, die nach Abschluß der Weideperioden aus den im äußersten Norden des Deltas gelegenen Sümpfen zu den Siedlungen im nördlichen und mittleren Delta durchgeführt werden, den Wegeverlauf der Herden an den Wasserstraßen ausrichten, da ein Durchqueren mittels Waten oder Schwimmen kaum zu bewerkstelligen ist. Andererseits gibt es Hinweise, daß man in Oberägypten, wo andere topographische Verhältnisse herrschen, im Zuge des Weidegrundwechsels oder des Abtriebs tatsächlich die gesamte Viehherde durch den tiefen Fluß treibt. Der hohe Aufwand und die dichte Komplexität der in den verschiedenen Wirtschaftszweigen durchgeführten Reisen und Transporte unterstreicht, daß die regelmäßige Bewegung großer Gütermengen über lange Strecken hinweg einen festen Bestandteil des ökonomischen Systems ausmacht, was die Implementierung desselben in der Kultur und damit seine hohe Bedeutung für sie erweist.

Zusammenfassung

Wie gezeigt basiert die Sonderstellung der ägyptischen Niltaloase zuerst auf der Wassermechanik des Nils, die Ägypten aus der unmittelbaren Einbindung in die Aridisierung Nordafrikas herausnimmt. Dies wiederum ist die Voraussetzung für die Entstehung der für Ägypten typischen Binnenstruktur, deren Komponenten auch in anderen Bereichen des Stromverlaufes existieren, nicht aber in einer vergleichbaren Quantität. Zu einem uns noch unbekannten Zeitpunkt im 4. Jahrtausend v.Chr. wird die Landschaftsstruktur vom Menschen auf ihre Nutzungspotentiale hin überprüft. Der Umfang der Beziehungen, die sich zwischen dem Landschaftsraum und den Formen menschlichen Zugriffs auf denselben herstellen lassen, sind bemerkenswert. Tatsächlich ist jede landschaftliche Komponente mit einer menschlichen Nutzungsweise verknüpft, was im Grunde bedeutet, daß die gesamte Niltaloase ökonomisch verwendet wird. Dabei zeigen die diversen Wirtschaftszweige einen enorm hohen Personalbedarf zur Erzeugung der Güter bei gleichzeitig hohem Materialeinsatz; dazu kommen aufwendige Organisationsformen, fest ins System eingebettete Verwaltungsstrukturen und eine ausgeklügelte Wege- und Transportsystematik.

Das Alte Ägypten macht also im Grunde nichts anderes, als den ihm gegebenen Standortvorteil in wirtschaftlicher Hinsicht konsequent zu nutzen. Sein ökonomisches System ist auf Überschußproduktion angelegt, was die materielle Grundlage gerade für die hohen bautechnischen Leistungen, wie sie etwa die Pyramiden darstellen, liefert. In diesem Zusammenhang fällt auf, daß das ökonomische System schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt gegen 2700 v.Chr. und damit zeitgleich mit der Errichtung der ältesten Pyramiden voll ausgebildet ist. Der Schluß liegt nahe, daß die langwierigen Prozesse der Standortprüfung, der Ausbildung der Landwirtschaftszweige mit ihrer umfangreichen Organisation sowie der Entwicklung zur Überschußproduktion hin im Vorhinein abliefen und in dem genannten Zeitraum des Pyramidenbaus bereits abgeschlossen waren. Vereinfacht formuliert: Die Entwicklung des ökonomischen Systems geht Hand in Hand mit der Entstehung der Altägyptischen Kultur selbst. Wir können also sicher sein, daß die Ökonomie entscheidend zur Geburt der Kultur beiträgt.

Nun wissen wir, daß die Austrocknung Nordafrikas zwischen 7000 v.Chr. und 4000 v.Chr. von einer Feuchtphase unterbrochen wird. In dieser Zeit steigt das allgemeine Niederschlagsniveau deutlich an. Verbunden damit sind stark erhöhte Grundwasserstände bei gleichzeitig niedrigeren Temperaturen. Alles in allem herrschen in Nordostafrika wesentlich bessere Lebensbedingungen als in den früheren bzw. späteren Zeitstufen. Es liegt nahe, zwischen dem Abklingen dieser Feuchtphase und dem Entstehen der Altägyptischen Kultur kausale Zusammenhänge zu postulieren. Fraglich bleibt vorerst, wie diese Zusammenhänge zu rekonstruieren sind. Denn angesichts der starken Klimaveränderungen, die mit dem Schwinden der Feuchtphase und dem Einsetzen der hochariden Phase vonstatten gehen, ist es sicher, daß die Niltaloase um 4000 v.Chr. dem Menschen keineswegs dasselbe Erscheinungsbild bietet, wie gegen 3000 v.Chr., in der Zeit der Entstehung der Kultur. So könnten etwa die Regenfälle der Feuchtphase ab 7000 v.Chr. in Verbindung mit der Flutmechanik des Nils zu einer "Versumpfung" des gesamten Tales geführt haben, was auch erklären würde, warum die prähistorischen Siedlungen überwiegend an den Talrändern liegen. Es ist nicht auszuschließen, daß der Standort "Ägyptisches Niltal" in den frühen Zeitstufen keineswegs jene Attraktivität in ökonomischer Hinsicht aufweist, die sich dann zu einem späteren Zeitpunkt die Altägyptische Kultur zunutze macht.

Herzlich gedankt sei den Kolleginnen und Kollegen des Sonderforschungsbereiches 389 der Universität zu Köln, insbesondere Dr. Olaf Bubenzer, Dr. Stefan Kröpelin, Dr. Rudolph Kuper, Dr. Heiko Riemer, Prof. Dr. Heinz Thissen. Des weiteren sei für Anregungen und Materialien gedankt Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Decker und Frank Förster M.A.