Tonsteine und Scherben

Die Geschichtsschreibung der Hethiter steht im Mittelpunkt eines neuen Forschungsprojekts an der Universität Würzburg. Mehr als 3000 Jahre alte Tontafeln bilden seine Grundlage.

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Die Mitglieder der Emmy-Noether-Gruppe (v.l.): Henry Lewis, Ege Dağbaşı, James M. Burgin und Johannes Bach
Die Mitglieder der Emmy-Noether-Gruppe (v.l.): Henry Lewis, Ege Dağbaşı, James M. Burgin und Johannes Bach. (Foto: Greta Van Buylaere)

"Als ich mich noch nicht auf den Thron meines Vaters gesetzt hatte, da wurden mir die benachbarten Feindesländer alle feindlich. Als mein Vater Gott geworden war, setzte sich mein Bruder Arnuwanda auf den Thron, aber danach erkrankte er. Als aber Arnuwanda Gott geworden war, da begannen auch alle Feindesländer, die noch nicht feindlich geworden waren, ebenfalls feindlich zu werden." Kriegerisch begann die Amtszeit Muršili II., Sohn des Großkönigs Šuppiluliuma I. und selbst Großkönig der Hethiter vermutlich ab dem Jahr 1321 vor unserer Zeitrechnung. Zwei Todesfälle machten seinen Aufstieg möglich, denn nichts anderes als "sterben" bedeutet die Formulierung "Gott geworden". Zu lesen ist dieser Aufstieg an die Macht in zeitgenössischen Aufzeichnungen, die bis heute erhalten sind – die sogenannten hethitischen Annalen.

Mit ihnen beschäftigt sich eine neue Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, die jetzt die Arbeit aufgenommen hat. Ihr Leiter ist der Altorientalist Dr. James M. Burgin; weitere Mitglieder sind der Postdoc Dr. Johannes Bach sowie die Doktoranden Ege Dagbası und Henry Lewis.

"Die hethitischen Annalen gehören zu den frühesten historiographischen Texten des Alten Orients", erklärt Burgin. Sie stammen aus der Zeit von ca. 1650 bis 1190 v. Chr. und dokumentieren die politischen und militärischen Aktivitäten der hethitischen Könige mit ausgedehnten und detaillierten Beschreibungen. Das mache sie zu einer der am häufigsten behandelten altorientalischen historischen Quellen, so der Wissenschaftler.

Den größte Teil der heutigen Türkei, dazu für längere Zeit auch die nördliche Hälfte Syriens und für eine kurze Zeit noch Zypern: Über dieses Gebiet erstreckte sich das Reich der Hethiter vor mehr als 3000 Jahren. Seine Hauptstadt Hattuša lag etwa 160 Kilometer östlich des heutigen Ankaras und war zeitweilig eine der ausgedehntesten Stadtanlagen der Welt.

Mit den Pharaonen Ägyptens und den Königen Babyloniens befanden sich die hethitischen Großkönige auf gleicher Höhe. Sie standen mit ihnen in regelmäßigem diplomatischen Kontakt und schlossen paritätische Staatsverträge ab. In ihren Palästen und Tempeln befanden sich große Sammlungen von Keilschrifttafeln in sieben verschiedenen Sprachen – Tafeln, mit denen sich die Mitglieder der Emmy-Noether-Gruppe in den nächsten sechs Jahren intensiv beschäftigen werden.

"Dass wir heute noch diese Tafeln besitzen, ist ein unglaubliches Glück", sagt Burgin. Dass die Texte gelesen werden können, erscheint dem Laien noch viel unglaublicher. "Als wäre ein Haufen Hühner durch Lehm spaziert" lautet ein gängiges Bonmot über Keilschrift, in der auch die Hethiter geschrieben haben. Im Fall der Annalen ließe sich noch ergänzen: Es müssen Zwerghühner gewesen sein – so klein sind die Schriftzeichen.

Etwa 20 Zentimeter waren die Tontafeln in der Regel hoch. Auf ihnen wurde der Text in etwa 60 bis 70 Zeilen und in zwei Spalten festgehalten. Dass die Wissenschaftler eine komplette Tafel in den Händen halten, kommt allerdings selten vor. Aufgrund ihres hohen Alters sind viele von ihnen zerbrochen, es fehlen Stücke, der Text ist lückenhaft und häufig sind die Kanten zerstört und nicht mehr lesbar. Entdeckt wurden die Tafeln im Laufe des 20. Jahrhunderts bei Ausgrabungen des Deutschen Archäologischen Instituts in der Türkei. Von dort gelangten sie zunächst nach Berlin, wo sie abgezeichnet, fotografiert und zum ersten Mal wissenschaftlich erschlossen wurden. 1991 wurden sie der Türkei zurückgegeben, wo sie heute in Museen liegen. "Wir werden deshalb in den kommenden Jahren immer wieder in die Türkei reisen und uns die Originale anschauen und diese in Form von hochauflösenden Fotos neu online erschließen", erklärt James Burgin.

Was interessiert ihn und seine Mitstreiter an den Annalen, wo sich doch schon so viele Wissenschaftler zuvor mit ihnen beschäftigt haben? "Die Frage nach den Ursprüngen der hethitischen Annalistik und ihrer möglichen Abhängigkeit von literarischen und historiographischen Vorläufern ist bislang unbeantwortet", erklärt der Altorientalist. Wie hat sich die Geschichtsschreibung in der Geschichte der Menschheit entwickelt? Wo liegen ihre Wurzeln, wie haben sich verschiedene Kulturen gegenseitig beeinflusst? Antworten auf diese und viele weitere Fragen will das Team liefern. "Es ist ja nicht so, dass die Menschen, kaum dass sie schreiben konnten, damit angefangen haben, ihre Geschichte festzuhalten. Das hat sich erst viel später entwickelt", erklärt Burgin. Ihn interessiert, von wem die Annalen der Hethiter beeinflusst waren, wen sie beeinflusst haben und welche Innovationen sie möglicherweise eingeführt haben.

Um diese Frage wird sich in erster Linie Johannes Bach kümmern. Er baut sozusagen die Brücke nach Mesopotamien, wo vermutlich die Ursprünge der Geschichtsschreibung liegen. "Wir wissen, dass die Hethiter vielfach auf syrisch-mesopotamische Traditionen zurückgegriffen haben. Auch baut ihr Schriftsystem auf dem Mesopotamischen auf", erklärt Burgin. Und was die Neuerungen angeht, die sie eingeführt haben, sei noch unklar, ob sie diese möglicherweise von anderen Kulturen übernommen haben.

Die hethitischen Annalentexte als Gesamtkorpus neu zu edieren und zu analysieren und die Ergebnisse des Vorhabens sowohl gedruckt als auch als digitale Online-Edition im Rahmen des Hethitologie-Portal Mainz vorzulegen: Das ist das wesentliche Ziel der Emmy-Noether-Gruppe.

Reichen die dafür jetzt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) angesetzten und finanzierten sechs Jahre? "Ja und nein", sagt James Burgin mit einem Lachen. Sicherlich werde die Gruppe die in dem Projektantrag formulierten Ziele erreichen. "Aber ich bin mir sicher, dass wir damit auch die Basis legen für eine weitere, lebenslange Forschung." Seine Forschung werde jedenfalls nach den sechs Jahren nicht enden.