Nachgewiesen wurden in den vergangenen Wochen zwei für entsprechende Kastelle typische Spitzgräben, die Pfostenlöcher eines hölzernen Turms der Umwehrung sowie weitere Befunde aus der Zeit nach der Auflassung des Kastells. Ungewöhnlich zahlreich sind die Funde. Denn die römische Truppe legte bei ihrem Abzug das Kastell nieder und verfüllte die Gräben. Dabei wurde vor allem im inneren Spitzgraben viel Abfall entsorgt. "Ein Glücksfall für uns", so Prof. Dr. Hans-Markus von Kaenel vom Institut für Archäologische Wissenschaften der Goethe-Universität, "wir haben Kiste um Kiste mit Scherben von Fein-, Grob- und Transportkeramik gefüllt; ihre Bestimmung wird es erlauben, das Ende des Kastells zeitlich genauer einzugrenzen als bislang möglich".
Über das römische Gernsheim war bisher wenig bekannt, obwohl hier seit dem 19. Jahrhundert immer wieder römische Funde zutage treten. "Sicher schien aufgrund der Funde bisher nur, dass hier vom 1. bis 3. Jahrhundert eine bedeutende dorfartige Siedlung, ein vicus, gelegen haben muss, vergleichbar etwa mit ähnlichen Dörfern, die bereits in Groß-Gerau, Dieburg oder Ladenburg nachgewiesen werden konnten", erläutert Grabungsleiter Dr. Thomas Maurer, der seit Jahren von Frankfurt aus nach Südhessen auf Spurensuche geht und seine Ergebnisse in einer großen Publikation über das nördliche Hessische Ried in der römischen Kaiserzeit veröffentlich hat.
"Angenommen wurde", so Maurer weiter, "dass diese Siedlung aus einem Kastell hervorgegangen sein müsse, war es doch üblich, dass die Angehörigen der Soldaten vor dem Kastell in einer dorfartigen Siedlung lebten." "Diese Grabungskampagne ist ein echter Volltreffer", freut sich Prof. von Kaenel, "die Ergebnisse stellen einen Meilenstein in der Rekonstruktion der Geschichte des Hessischen Ried in der römischen Zeit dar." Seit bald 20 Jahren kümmert sich von Kaenel zusammen mit seinen Mitarbeitern und Studierenden im Rahmen von Surveys, Ausgrabungen, Materialaufarbeitungen und Auswertungen um diesen Raum.
Die Römer errichteten das Kastell in Gernsheim, um in den 70er Jahren des 1. Jh. n. Chr. den rechtsrheinischen Raum großflächig in Besitz zu nehmen und die Verkehrsinfrastruktur vom und zum Zentrum Mainz/Mogontiacum auszubauen. Für die große Bedeutung von Gernsheim am Rhein in römischer Zeit spricht seine verkehrsgünstige Lage, hier zweigte eine Straße an den Mainlimes von der Fernstraße Mainz – Ladenburg – Augsburg ab. Auch die Existenz eines Rheinhafens wird vermutet, was durch diese Grabung allerdings nicht bestätigt werden konnte. "Das war schon durch die Auswahl des Areals nicht zu erwarten", so Maurer. Gernsheim hat sich im 20. Jahrhundert immer stärker ausgedehnt, was die archäologischen Spuren mehr und mehr zu verwischen drohte. Lagen die römischen Überreste um 1900 größtenteils noch unter Äckern und Gärten, so wurden sie peu à peu überbaut und gingen damit der planmäßigen archäologischen Forschung verloren. Das letzte größere Areal, in dem mit römischen Funden zu rechnen war, war ein Gebiet im Südwesten der Stadt zwischen der B 44 und dem Winkelbach. Doch 1971 rückten auch hier die Bagger an. Maurer ergänzt: "Nur notdürftig konnten damals einige römische Funde von ehrenamtlichen Helfern der Denkmalpflege geborgen werden."
Am 4. August dieses Jahres startete auf einem der wenigen noch unbebauten Grundstücke, ein Doppelgrundstück an der Nibelungenstraße, die diesjährige Lehrgrabung des Instituts für Archäologische Wissenschaften der Goethe-Universität. "Nach meiner Kartierung der lokalisierbaren Gernsheimer Fundstellen befinden wir uns ganz am westlichen Rand der Fundkonzentration, unmittelbar am Rand der Niederterrasse, denn der nicht weit entfernte Winkelbach verläuft bereits in der Rheinniederung", erklärt Grabungsleiter Maurer. Auf fast allen benachbarten Grundstücken wurden in den 1970er und 80er Jahren vereinzelt römische Funde notiert. "Der Platz erschien daher als lohnenswertes Grabungsziel, was sich voll bestätigt hat."
15 Studierende des Faches "Archäologie und Geschichte der römischen Provinzen" sorgten in den vergangenen fünf Wochen dafür, dass das Erdreich sorgsam abgetragen, die Befunde vermessen und dokumentiert sowie die Funde nach Befundeinheiten geborgen und verpackt wurden. Unterstützt wird die Tätigkeit der Frankfurter Archäologen vom Landesamt für Denkmalpflege Hessen (hessenARCHÄOLOGIE, Außenstelle Darmstadt) sowie vom Kunst- und Kulturhistorischen Verein der Schöfferstadt Gernsheim. Einige Mitglieder dieses Vereins, der auch das Heimatmuseum betreibt, standen dem Grabungsteam täglich mit Rat und Tat zur Seite. Die Dokumentation und das Fundmaterial aus dieser Grabungskampagne bildet die Grundlage einer universitären Abschlussarbeit, die im kommenden Wintersemester in Angriff genommen wird.