"Hiermit schließt denn das Leben. Es gibt nichts mehr zu sehen. Die Weisheit der Könige ist dahin." So endet das Popol Vuch, das "Buch des Rates" der Maya-Kultur. Dass zumindest ein Teil vom Wissen dieses altamerikanischen Volkes aus dem Dunkel der Vergangenheit wieder auftauchte, ist auch ein Verdienst der Menschen, denen es in den letzten Jahrzehnten gelang, die einst nicht lesbare Hieroglyphenschrift der Maya zu großen Teilen zu entschlüsseln. Das Weltzentrum der Maya-Forschung liegt an der Universität Bonn – an der Abteilung für Altamerikanistik des Instituts für Archäologie und Kulturanthropologie. Der Geschäftsführende Direktor Prof. Dr. Nikolai Grube und sein Team beginnen nun ein wegweisendes Großprojekt: Das erste Gesamt-Wörterbuch der klassischen Maya-Sprache, komplett mit Online-Datenbank aller Hieroglyphentexte. Die Arbeit am "Interdisciplinary Dictionary of Classican Maya" (IDIOM) ist auf 15 Jahre veranschlagt. Sie wird von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste mit 5,4 Millionen Euro unterstützt.
Rund 8000 Hieroglyphentexte hat die Maya-Kultur hinterlassen: Sie reichen von kurzen Namensangaben bis zum in Stein gemeißelten 2000-Zeichen-Geschichtsbuch auf der großen Tempeltreppe von Copán und zu den geheimnisvollen "Codizes", Büchern aus Baumrinde, von denen nur drei den Scheiterhaufen der spanischen Eroberer entgingen. Insgesamt gibt es etwa acht- bis neunhundert verschiedene Schriftzeichen; gesichert lesen können die Forscher, wie Professor Dr. Grube erklärt, "nach konservativer Schätzung etwa 500". Jetzt wollen die Bonner Experten alle Texte digital sammeln und analysierbar machen. Dazu erfassen sie Abbildungen aller Schrifttafeln, Stelen und sonstiger Texte – mit allen Hieroglyphen, mit Umschrift der Aussprache und mit englischer Übersetzung. Hinzu kommen auch Kommentare zur Grammatik, Stichworte zum Inhalt und Hinweise auf noch offene Übersetzungsfragen.
Computertechnisch greifen die Wissenschaftler auf das System TextGrid zurück, das an der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen entstand; sie passen dieses für viele Sprachen einsetzbare Computerprogramm dazu erstmals an die Maya-Hieroglyphen an. TextGrid ermöglicht es, eingespeiste Texte nach zuvor einprogrammierten Kriterien zu sortieren und zu durchsuchen. Das kann die Entzifferungsarbeit um entscheidende Schritte voranbringen: Für viele noch nicht entschlüsselte Zeichen gibt es Deutungshypothesen – die lassen sich leichter überprüfen, wenn man alle Texte kennt, in denen das jeweilige Zeichen vorkommt. Prof. Grube präzisiert: "Man sieht eine Hieroglyphe, die man noch nicht entziffern kann – und fragt das System: Wo kommt die sonst noch überall vor? Oder kommt eine Gruppe unentzifferter Zeichen vielleicht stets gemeinsam vor? Falls ja, kann einem das neue Ansätze zur Entzifferung liefern." Prof. Grube nennt das ein Entzifferungslabor: "Viele Zeichen, die bislang nicht lesbar sind, werden durch unsere Datenbank lesbar werden."
Die Bonner Altamerikanisten wollen zudem eine Standardgrammatik erarbeiten – "ein umfassendes, systematisches Bild der Maya-Sprache der klassischen Zeit", sagt Prof. Grube. "So eine Gesamtdarstellung gibt es bislang nicht." Die Kultur der Maya umspannt 1800 Jahre (von etwa 300 vor bis etwa 1500 nach Christus) – und weil sie als Kalender-Experten alle Texte mit Datum versahen, lässt sich die Entwicklung ihrer Sprache genau verfolgen. Wie veränderten sich die Schriftzeichen im Verlauf der Generationen? Haben sich die grammatischen Formen vereinfacht? Wichtige Fragen nicht nur für die Maya-Forschung, sondern für die Sprachwissenschaft insgesamt: "Alle Modelle darüber, auf welche Weise sich Sprachen verändern, sind auf europäischer Basis entstanden", erklärt Grube. "Unser Projekt macht diese Modelle zum ersten Mal an einer amerikanischen Sprache überprüfbar."
Als Druckversion soll das "Wörterbuch des Klassischen Maya" drei Bände umfassen; als Zusatzband kommt eine Liste aller Hieroglyphen hinzu. Erscheinen wird das Werk erst zum Schluss des 15-Jahre-Projekts, weil sich das Wissen der Experten durch neue Ausgrabungen immer noch ständig vergrößert. Alle Zwischenergebnisse wollen die Bonner Forscher jedoch regelmäßig im Internet verfügbar machen – auch für Nichtwissenschaftler kostenfrei zugänglich. Als erster Schritt soll die Inschriften-Datenbank im Laufe des Jahres 2014 online gehen.