Wie die Neandertaler sich dem Klima anpassten
»Nur wenn wir das soziale Verhalten und die technologischen Fertigkeiten unserer Vorfahren kennen, können wir verstehen, warum es uns heute gibt und nicht sie«, sagt Picin. Der italienische Wissenschaftler forscht derzeit als Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Insgesamt zwei Jahre ist er in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Clemens Pasda vom Bereich für Ur- und Frühgeschichte zu Gast; drei Monate davon wird er im Neanderthal Museum im nordrhein-westfälischen Mettmann verbringen.
Während seines Forschungsaufenthaltes in Jena wird sich der 39-Jährige vor allem mit der Levallois-Technik befassen – einer Technik zur Bearbeitung von Feuerstein, welche die Neandertaler vor etwa 200.000 Jahren entwickelt haben. »Dabei wurde der Stein aufwendig vorbearbeitet und dann mit einem gezielten Schlag ein Stück aus dem Kernstein abgetrennt, der gewissermaßen als Negativ übrig blieb«, erklärt Picin. Damit konnten die Menschen nicht nur feinere und präzisere Werkzeuge herstellen, die Technik war auch eine Weiterentwicklung der kognitiven Fähigkeiten, da die Menschen den Stein zunächst in ihrer Vorstellung umformen mussten, sagt Picin.
Der Wissenschaftler will nun herausfinden, wie sich die Levallois-Technik in Mitteleuropa entwickelt hat und welchen Einfluss die jeweiligen Umweltbedingungen dabei hatten. »In der Altsteinzeit wechselten sich Eis- und Warmzeiten ab und damit veränderten sich auch Flora und Fauna. Die Menschen mussten neue Jagdstrategien entwickeln und damit auch neue Waffen und Werkzeuge, was wiederum neue Techniken zur Bearbeitung von Steinen nach sich zog«, erläutert Picin seinen Forschungsansatz. In den kommenden Monaten wird er tausende altsteinzeitliche Steinartefakte akribisch untersuchen und vermessen, um zu rekonstruieren, wie die Menschen sie einst bearbeitet haben und ob sich die Arbeitsweise im Laufe der Zeit verändert hat. Anschließend wird er die Ergebnisse mit Klima- und Umweltdaten vergleichen – um schließlich zu entschlüsseln, wie die Menschen ihr Verhalten und ihre Arbeitsweise den jeweiligen Lebensbedingungen anpassten. Picins Hauptaugenmerk liegt dabei auf den mitteldeutschen Ausgrabungsorten Markkleeberg, Neumark und Königsaue. »Die drei Fundstellen spiegeln Epochen mit unterschiedlichen klimatischen Verhältnissen wider, so dass sich hier der Zusammenhang zwischen Klima und technologischem Wandel besonders gut erforschen lässt«, sagt Picin. Die Markkleeberger Fundstücke sind mit 300.000 Jahren am ältesten und stammen aus einer Eiszeit, ebenso die 50.000 Jahre alten Artefakte aus Könisgaue. »Die Funde aus Neumark liegen zeitlich genau dazwischen und sind hingegen einer Warmzeit zuzuordnen, als es wieder mehr Wälder gab und die Levallois-Technik weniger verbreitet war«, erklärt Picin.
Dass Andrea Picin sich heute mit den Neandertalern befasst, war vor einigen Jahren noch nicht absehbar: Denn Picin lernte ursprünglich den Beruf des Rettungsschwimmers, den er auch mehrere Jahre lang ausübte. Doch bei einem Besuch einer römischen Ausgrabungsstätte packte ihn der Forschergeist: Im Alter von 30 wagte er den beruflichen Neuanfang und studierte prähistorische Archäologie in Padua (Italien) und Tarragona (Spanien). Anschließend folgte die Promotion in Tarragona und am Neanderthal Museum, die er im März 2014 abschloss. Seit Oktober forscht er nun als Humboldt-Stipendiat an der Universität Jena. »Der Bereich für Ur- und Frühgeschichte in Jena hat eine lange Geschichte und Prof. Pasda ist in Europa einer der bekanntesten Experten für Steinbearbeitungstechniken der Steinzeit«, betont Picin. Neben seiner Forschungsarbeit will der Italiener auch Erfahrungen in der Lehre sammeln – und natürlich Jena und die Region erkunden: »Ich habe kürzlich mehrere Leute gesehen, die auf der Saale Kanu gefahren sind. Das möchte ich auch unbedingt machen!« sagt Picin. Die besten Voraussetzungen hat er ja, schließlich ist mit ihm immer ein Rettungsschwimmer an Bord.
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