Die drei Mittelohrknochen Hammer, Amboss und Steigbügel bilden zusammen die Gehörknöchelchenkette. Diese knöcherne Kette dient allen Säugetieren zur Übertragung von Schallwellen vom Trommelfell zum Innenohr. Sie verstärkt die Energie des Luftschalls, sodass sich die Schallwelle innerhalb des mit Flüssigkeit gefüllten Innenohrs ausbreiten kann. Die Gehörknöchelchen sind die kleinsten Knochen in unserem Körper. Es überrascht also nicht, dass sie in fossilen Überresten von Urmenschen und anderen Säugetieren nur selten erhalten sind, was die Erforschung des Gehörsinns ausgestorbener Arten sehr schwierig macht. So wird von Experten beispielsweise schon seit Langem diskutiert, ob Neandertaler auch über eine gesprochene Sprache verfügten.
Ein Forscherteam unter der Leitung von Alexander Stoessel vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie hat jetzt mithilfe hochauflösender Computertomografie Neandertalerschädel gescannt und dabei systematisch nach Gehörknöchelchen gesucht, die sich möglicherweise im Mittelohrbereich verfangen hatten. Und tatsächlich wurden die Forscher bei 14 Neandertalern von Stätten aus Frankreich, Deutschland, Kroatien und Israel fündig. Aus ihren Funden haben sie die bisher größte Sammlung an Gehörknöchelchen einer fossilen Menschenart erstellt. "Wir waren wirklich erstaunt, wie oft die Gehörknöchelchen in den fossilen Überresten erhalten geblieben waren, insbesondere wenn das Ohr mit Sedimenten gefüllt war", sagt Erstautor Alexander Stoessel.
Nachdem sie die Knochen am Computer rekonstruiert hatten, verglichen die Wissenschaftler, zu denen auch Kollegen der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und des University College in London gehörten, die Neandertaler-Knöchelchen mit denen von anatomisch modernen Menschen sowie unserer nächsten lebenden Verwandten, Schimpansen und Gorillas.
Da Gehörknöchelchen nicht nur klein, sondern auch äußerst komplex geformt sind, führten die Forscher den Vergleich mithilfe der dreidimensionalen Abbilder der Knochen durch. Diese Analyse verwendet eine sehr viel größere Anzahl an Messpunkten, was bei der Untersuchung der dreidimensionalen Gestalt einer Struktur von Vorteil ist. "Trotz der nahen Verwandtschaft zwischen anatomisch modernen Menschen und Neandertalern sind die Gehörknöchelchen bei diesen beiden Arten überraschend unterschiedlich geformt", sagt Romain David, der an der Studie beteiligt war.
Von diesem morphologischen Vergleich ausgehend, untersuchte das Forscherteam mögliche Gründe für die Unterschiede. Beeinflussten die Unterschiede vielleicht das Hörvermögen von Neandertaler und modernen Menschen oder deuteten sie vielmehr auf eine enge Beziehung zur Schädelbasis hin? Um diese Fragen zu beantworten analysierten die Forscher Strukturen in der Umgebung der Gehörknöchelchen. Das Ergebnis überraschte: Das Mittelohr ist zwar bei Neandertalern und modernen Menschen jeweils unterschiedlich beschaffen, es funktioniert jedoch ganz ähnlich.
Das Team fand heraus, dass die Form der Knöchelchen stark von der Form der sie umgebenden Schädelstrukturen abhängt, die sich zwischen beiden Menschengruppen ebenfalls unterscheidet. Der Grund dafür ist, dass Neandertaler und moderne Menschen unterschiedlichen evolutionären Wegen hin zu einem größeren Gehirn folgten, was sich wiederum auf die Strukturen der Schädelbasis auswirkte, zu der das Mittelohr gehört. "In Anbetracht der Bedeutung der Mittelohr-Gehörknöchelchen für das Hören, deuten die von uns gefundenen funktionellen Ähnlichkeiten darauf hin, dass es Übereinstimmungen in der Lautkommunikation bei modernen Menschen und Neandertalern gegeben haben könnte", sagt Co-Autor Jean-Jacques Hublin und ergänzt: "Unsere Ergebnisse bilden nun die Basis für weitere Forschungsaktivitäten um herauszufinden, ob archaische Homininen wie die Neandertaler über gesprochene Sprache verfügten."