An Neandertalerknochen aus der Ausgrabungsstätte in den Höhlen von Goyet in Belgien hat ein internationales Forscherteam klare Belege für intentionelle Schlachtungen gefunden. Dies ist der erste Nachweis von Kannibalismus unter Neandertalern im nördlichen Europa. Die Skelettüberreste wurden mit Hilfe der Radiokarbonmethode auf ein Alter von ca. 40.500 bis 45.500 Jahren bestimmt. Diese späten Neandertaler verwendeten die Knochen ihrer Mitmenschen auch als Werkzeuge, mit denen sie Steinwerkzeuge nachbearbeiteten. Vom Senckenberg Center for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen waren Professor Hervé Bocherens und Professor Johannes Krause als auch von der Universität Tübingen Cosimo Posth und Christoph Wißing an den Untersuchungen beteiligt. Bei der neuen Auswertung der Fundsammlung aus der "Troisième caverne" von Goyet flossen die Ergebnisse verschiedener Disziplinen mit ein, 99 bisher unbestimmte Knochenfragmente konnten eindeutig als Überreste von Neandertalern identifiziert werden. Damit erbrachte die Fundstelle den größten Bestand an Neandertaler-Überresten im nördlichen Europa. Durch die komplette Analyse der Mitochondrien-DNA von zehn Neandertalern verdoppelten die Forscher den genetischen Datenbestand zu dieser vor rund 30.000 Jahren ausgestorbenen Menschenart. Sie bestätigten die Ergebnisse vorhergehender Studien, die untereinander eine geringe genetische Vielfalt – beziehungsweise eine enge Verwandtschaft – der späten Neandertaler in Europa ergeben hatten. Die neuen Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Scientific Reports veröffentlicht.
Die "Troisième caverne" von Goyet wurde bereits vor fast 150 Jahren ausgegraben. Neue Erkenntnisse gewinnen die Forscher jedoch durch moderne Untersuchungsmethoden, wie eine präzise digitale Vermessung und Beschreibung der Knochen, die Untersuchung der ursprünglichen Ablagerungsbedingungen, der Isotopenanalyse und genetischen Analysen.
Manche Überreste der Neandertaler in Goyet zeigen menschengemachte Veränderungen wie Schnitt- und Schlagspuren, was den Forschern zufolge klar auf Schlachtungen hinweist. Die Überreste wurden sehr intensiv genutzt und tragen Hinweise auf Enthäutung, Zerteilung und Extraktion des Knochenmarks. "Diese Nachweise lassen auf Kannibalismus unter den Neandertalern schließen", sagt Hervé Bocherens. Es sei allerdings nicht möglich zu bestimmen, ob die menschlichen Überreste im Rahmen symbolischer Handlungen bearbeitet worden seien oder ob die Mitmenschen ausschließlich als Nahrung dienten. "Die zahlreichen in Goyet gefundenen Überreste von Pferden und Rentieren wurden in der gleichen Weise bearbeitet", so der Wissenschaftler. Unter Wissenschaftlern unumstrittene Nachweise für Kannibalismus unter Neandertalern waren bisher von den beiden Ausgrabungsstätten El Sidrón und Zafarraya in Spanien und zwei weiteren in Moula-Guercy und Les Pradelles in Frankreich bekannt. Die Höhlen von Goyet liefern das erste Beispiel aus dem nördlichen Europa.
Dass die Neandertalerknochen aus Goyet von den Mitmenschen auch als Werkzeuge eingesetzt wurden, zeigen unter anderem vier Knochen eindeutig – ein Oberschenkelknochen und drei Schienbeine –, die zur Nachbesserung der Kanten von Steinwerkzeugen dienten. Solche Werkzeuge für die Nachbearbeitung wurden sonst häufig aus Tierknochen gefertigt. "Der Einsatz von Neandertalerknochen für diesen Zweck war nur von sehr wenigen Ausgrabungsstätten bekannt, und nirgends wurden sie so zahlreich gefunden wie in Goyet", sagt Bocherens. Für die Wissenschaftler ergibt sich mit den neuen Erkenntnissen eine beträchtliche Vielfalt an Verhaltensweisen im Umgang mit Toten bei den späten Neandertalern – in der letzten Periode vor ihrem Verschwinden. Keine der Neandertalerfundstätten in der gleichen Region liefere Hinweise auf einen ähnlichen Umgang mit Leichen wie in Goyet, so Bocherens. Stattdessen seien sogar Bestattungen bekannt. Außerdem kennen die Wissenschaftler von anderen Fundstätten der späten Neandertaler im nördlichen Europa weitere und verschiedene Arsenale an Steinwerkzeugen. "Die großen Unterschiede im Verhalten dieser Menschen einerseits und ihrer geringen genetischen Diversität andererseits gibt uns viele Fragen zum Sozialleben und dem Austausch zwischen verschiedenen Gruppen der späten Neandertaler auf", sagt der Wissenschaftler.