Vor ungefähr 7500 Jahren wurden die mitteleuropäischen Jäger und Sammler mit einer neuen Kultur konfrontiert: Ackerbauern und Viehhalter wanderten ein und brachten mit ihren Pflanzen und Tieren die Sesshaftigkeit nach ganz Zentraleuropa. Wissenschaftler der Johannes Gutenberg-Universität Mainz vermuten, dass die Einwanderer aus dem ungarischen Karpatenbecken aufgebrochen sind und von dort aus zu uns kamen. Welche Kulturen es im Ungarn der Jungsteinzeit genau gab und ob diese Völker unsere Vorfahren sein könnten, untersucht ein neues deutsch-ungarisches Forschungsprojekt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) stellt dafür ca. 920.000 Euro bereit.
"Ungarn wird während der Jungsteinzeit vor etwa 6.000 bis 4.500 Jahren von zahlreichen sesshaften Kulturen geprägt", erklärt Univ.-Prof. Dr. Kurt W. Alt vom Institut für Anthropologie der Uni Mainz. "Diese Siedler waren vermutlich über den Balkan aus dem Fruchtbaren Halbmond eingewandert. Sie hielten Rinder, Schafe und Ziegen und pflanzten Getreide an. Wir wissen aber insgesamt noch sehr wenig über sie." Das soll sich nun ändern. Durch Straßen- und Brückenbau kommen in Ungarn immer mehr steinzeitliche Funde ans Tageslicht, die für das Verständnis der europäischen Besiedlungsgeschichte höchst interessant sind.
Besonders wichtig für die Rekonstruktion der Abläufe ist die Linienbandkeramik. Die Keramikgefäße, die mit einem Bandmuster verziert sind, finden sich in fast ganz Mitteleuropa. "Nach archäologischen Erhebungen hat die Linienbandkeramik ihren Ursprung im Karpatenbecken und ist vermutlich aus dem Kulturkomplex Starcevo-Körös-Cris entstanden, der ab 6000 Jahre v. Chr. nachweisbar ist", sagt Alt. Wie sich diese drei Einzelkulturen und zahlreiche andere Kulturen des Karpatenbeckens zueinander verhalten, soll nun mit einem Methoden-Mix aus der Anthropologie und Archäologie untersucht werden. "Damit erhalten wir sehr zuverlässige Ergebnisse", so Alt. "Unter anderem können wir anhand von Isotopenuntersuchungen an Zähnen feststellen, ob jemand seine Kindheit an einem anderen Ort verbracht hat und demnach vermutlich emigriert ist."
Die Daten von 30 Fundplätzen aus Ungarn werden anschließend mit bereits vorhandenen Daten jungsteinzeitlicher Siedlungen aus dem Mittelelbe-Saale-Gebiet verglichen, um sie schließlich Befunden aus dem Fruchtbaren Halbmond gegenüberzustellen. "Vielleicht erlauben es unsere Ergebnisse, eine Besiedlungskette ausgehend vom Nahen Osten über das Karpatenbecken bis Mitteleuropa hin nachzuweisen", sagt Alt mit einem Hinweis darauf, dass das Wissen um gemeinsame Wurzeln auch zum gegenseitigen Verständnis zwischen Kulturen und Ländern im heutigen Europa beitragen kann.
Die DFG unterstützt das Forschungsprojekt "Bevölkerungsgeschichte des Karpatenbeckens in der Jungsteinzeit und ihr Einfluss auf die Besiedlung Mitteleuropas" der Arbeitsgruppe von Prof. Alt während drei Jahren mit ca. 920.000 Euro. Das Projekt erfolgt in Kooperation mit der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest, die vor allem die Ausgrabungen vor Ort mit bis zu 20 Archäologen betreut.
Anfang Dezember hat die Mainzer Anthropologie um Prof. Alt zusammen mit dem Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle von der VolkswagenStiftung eine Mittelzusage über 570.000 Euro erhalten, um einen mysteriösen Skelettfund aus dem 4. Jahrtausend v. Chr. zu untersuchen. Insgesamt werden in diesem Rahmen 130 Individuen am Fundort Salzmünde bei Halle sowie ihre Kultur erforscht.