Vögel bereicherten den Speiseplan der Neandertaler

Schlachtspuren auf Knochenfragmenten aus dem Hohle Fels geben Auskunft über das Leben vor 65.000 Jahren

Dass die Neandertaler in der Mittleren Altsteinzeit, vor mehr als 65.000 Jahren, auf der Schwäbischen Alb Großwild wie Rentiere, Wildpferde oder Wollnashörner jagten, gilt als wissenschaftlich gesichert. Die Jagd auf flinke, wendige Kleintiere wie Schneehühner oder -hasen hingegen wurde den Neandertalern lange nicht zugetraut. Jetzt haben Ausgrabungen in der Welterbe-Höhle Hohle Fels auf der Schwäbischen Alb nahe Schelklingen für das mittlere Europa die bislang besten Belege für solche Verhaltensweisen erbracht: Auf Vogelknochen fanden sich Schlachtspuren, die von Neandertalern stammen müssen.

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Ausgrabung Hohle Fels
Ausgrabung im Hohle Fels (2021) – Arbeitsfoto. Foto © Universität Tübingen / Nicholas Conard

Das Team von Professor Nicholas Conard aus der Abteilung Ältere Urgeschichte und Quartärökologie der Universität Tübingen hat eine größere Menge rund 65.000 Jahre alter Vogelknochen geborgen und untersucht. Die Ausgrabungsergebnisse wurden in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg veröffentlicht.

Allein im zehnten archäologischen Horizont (AH X) – einer tieferen Sedimentschicht unterhalb der Fundschichten des modernen Menschen, die anhand von Elektronen-Spin-Resonanz-Datierungen auf ein Alter von rund 65.000 Jahren bestimmt wurde – waren 1.187 Vogelknochen gefunden worden. Die meist bruchstückhaft kleinen Knochen stammen von Raufußhühnern, zu denen Schneehühner, Auerhühner und Birkhühner zählen, sowie von Entenvögeln, denen auch Gänse und Schwäne zuzurechnen sind. Insbesondere sechs der Knochen sind etwas Besonderes, da sie eindeutige Werkzeugspuren des Neandertalers zeigen. »Die meisten Spuren sprechen dafür, dass Gelenke auseinandergebrochen und Fleisch vom Knochen gelöst wurde«, sagt Prof. Conard. Während der Großteil der ausgegrabenen Knochen von Raubtieren in die Höhle gebracht worden waren, verraten die sechs Knochen mit den eindeutig menschlichen Schlachtspuren viel über die lang unterschätzte ökologische Anpassungsfähigkeit und die kognitiven Fähigkeiten der Neandertaler, so Prof. Conard weiter: »Wahrscheinlich konnten schon die Neandertaler Vögel jagen, um sich neben dem Fleisch von Pferd, Rentier und anderem Großwild weitere Kalorien- und Nährstoffquellen zu erschließen.«

Die Erkenntnisse aus dem Hohle Fels fügen sich in eine Reihe von archäologischen Funden der vergangenen Jahre ein: Für Südeuropa gelang vor einigen Jahren erstmals der Nachweis, dass die Neandertaler ein größeres Nahrungsspektrum nutzten als bisher bekannt und daher auch gezieltere Jagdstrategien entwickelt haben mussten. Typische Schnitt- und Schabspuren anderenorts legen auch nahe, dass sich Neandertaler mit Vogelfedern und Krallen schmückten. Damit müsse die Annahme, dass die Neandertaler aufgrund ihrer mangelnden geistigen Fähigkeiten und ihres eingeschränkten Ernährungsplans ausgestorben seien, revidiert werden, meint Dr. Stefanie Kölbl, geschäftsführende Direktorin des Urgeschichtlichen Museums Blaubeuren (urmu): »Wir müssen uns vom verbreiteten Bild des muskelbepackten Neandertalers mit einseitiger Vorliebe für Mammutsteaks lösen: Hochintelligente Jagdstrategien, das Bedürfnis nach Schmuck und, wie wir wissen, das Bestatten von Toten – all das weist die Neandertaler als flexible und symbolisch begabte Menschen aus, die weit mehr im Sinn hatten als das blanke Überleben.«

»Fund des Jahres« bis 12. September im urmu zu sehen

Das urmu liegt inmitten der Steinzeithöhlen, die von der UNESCO 2017 zum Welterbe »Höhlen und Eiszeitkunst der Schwäbischen Alb« ernannt wurden. Das Museum für altsteinzeitliche Kunst und Musik in Baden-Württemberg und Forschungsmuseum der Universität Tübingen erklärt das eiszeitliche Leben der Jäger und Sammler am Rand der Schwäbischen Alb vor 40.000 Jahren. Prominentestes Exponat ist das Original der »Venus vom Hohle Fels«.

Öffnungszeiten: Di bis So und feiertags, 10 bis 17 Uhr – www.urmu.de

Schnittspuren auf Schneehuhnknochen
Laufbeinknochen eines Schneehuhns mit Schnittspur (Hohle Fels Fund Nr. 2238). Abb. © urmu / Universität Tübingen
Höhlenhalle Hohle Fels
Höhlenhalle im Hohle Fels. Foto: Jens Burkert / © Weltkultursprung
Publikation

Nicholas J. Conard, Alexander Janas

Fundreiche mittelpaläolithische Schichten und neue Einblicke in Technologie und Subsistenz der Neandertaler im Hohle Fels

Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg 2021, 67-72. Juli 2022