Der Fund war eine wissenschaftliche Sensation: 2008 gruben russische Archäologen die Überreste eines ausgestorbenen Urmenschen in der Denisova-Höhle im südlichen Sibirien aus. Die Sequenzierung des Kerngenoms, das einem mehr als 30.000 Jahre alten Fingerknochen entnommen wurde, ergab, dass der Denisova-Mensch weder Neandertaler noch moderner Mensch war, sondern eine eigenständige, neue Homininenform. Geringste Spuren des Denisova-Erbgutes finden sich auch heute noch in einigen lebenden Individuen. Die DNA-Vergleiche von modernen Menschen und Urmenschen geben jetzt neue Hinweise darauf, wie menschliche Populationen vor mehr als 44.000 Jahren Asien besiedelten. (American Journal of Human Genetic, 22. September 2011)
Der Denisova-Mensch hat Erbgut nicht nur an heute lebende Populationen auf Neuguinea sondern auch an australische Ureinwohner und philippinische Populationen weitergegeben, fanden Wissenschaftler von der Harvard Medical School in Boston (USA), und vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie heraus. David Reich, Professor für Genetik an der Harvard Medical School: »Die Denisova-DNA ist vergleichbar mit einem medizinischen Kontrastmittel, das die Blutgefäße einer Person sichtbar macht. Sie hat einen so hohen Wiedererkennungswert, dass man sogar geringe Mengen in einem Individuum nachweisen kann. So konnten wir Denisova-DNA in menschlichen Migrationen aufspüren.« Im Gegensatz zu bisherigen Erkenntnissen hat der moderne Mensch Asien möglicherweise in mindestens zwei Migrationswellen besiedelt. Nach David Reich entsprangen der ersten Migrationswelle Ureinwohnerpopulationen, die heute noch in Südostasien und Ozeanien leben. Spätere Wanderungen bildeten Populationen in Ostasiaten aus, die mit der heute in Südostasien lebenden Bevölkerung verwandt sind.
Denisova-Menschen waren demnach über ein außergewöhnlich großes ökologisches und geographisches Gebiet verbreitet, das von Sibirien bis ins tropische Südostasien reichte. »Die Tatsache, dass Denisova-DNA in einigen aber nicht in anderen heute lebenden Ureinwohnerpopulationen Südostasiens nachweisbar ist, zeigt, dass es vor mehr als 44.000 Jahren zahlreiche Populationen mit oder ohne Denisova-DNA gegeben hat«, sagt Mark Stoneking, Professor für Populationsgenetik am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und leitender Autor der Studie. »Das Vorhandensein von Denisova-Erbgut in einigen aber nicht in allen Gruppen kann am einfachsten dadurch erklärt werden, dass Denisova-Menschen selbst in Südostasien gelebt haben.« Bereits im Dezember 2010 hatte Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in der Fachzeitschrift Nature berichtet, dass Denisova-Menschen Gene zu heute lebenden menschlichen Populationen auf Neuguinea beitragen haben.
Die neue Studie, die von Mark Stoneking – einem Experten auf dem Gebiet menschlicher genetischer Variation in Südostasien und Ozeanien – ins Leben gerufen wurde, erforscht nun, welchen genetischen Fußabdruck der Denisova-Mensch in uns hinterlassen hat. Die Wissenschaftler analysierten das Erbgut von 33 heute lebenden Populationen aus Südostasien und Ozeanien, darunter von Menschen aus Borneo, Fidschi, Indonesien, Malaysia, Australien, Philippinen, Papua Neuguinea und Polynesien. Einige dieser Daten existierten bereits, andere wurden im Zusammenhang mit der aktuellen Studie zusätzlich erhoben.
Die Analyse der Forscher zeigt, dass der Denisova-Mensch mit seinem Erbgut nicht nur zu heute lebenden Menschen aus Neuguinea sondern auch zu australischen Ureinwohnern, der philippinischen »Negrito«-Gruppe der Mamanwa und einigen anderen Populationen im östlichen Südostasien und Ozeanien beigetragen hat. Westliche und nordwestliche Gruppen, einschließlich anderer »Negrito«-Gruppen, wie der auf den Andamanen lebenden Onge und der in Malaysia lebenden Jehai, sowie der auf dem Festland lebenden Ostasiaten, vermischten sich hingegen nicht mit den Denisova-Menschen.
Die Forscher schließen daraus, dass Denisova-Menschen sich vor wenigstens 44.000 Jahren mit modernen Menschen vermischten, bevor sich Australier und die Bewohner Neuguineas voneinander trennten. Südostasien hingegen wurde zuerst von modernen Menschen kolonialisiert, die mit heute lebenden Chinesen und Indonesiern nicht verwandt waren. Letztere wanderten erst im Laufe späterer Migrationen zu. Diese als »Südroute« bezeichnete Hypothese der Besiedlung von Südostasien und Ozeanien konnte zwar bereits durch archäologische Befunde belegt werden, eine starke Unterstützung durch genetische Befunde gab es jedoch bisher nicht.