Tennie beschäftigte sich in der Vergangenheit mit der These, dass kulturelle und nicht genetische Anpassung es den Menschen ermöglicht hätte, den gesamten Planeten zu bevölkern. Denn Menschen hätten nicht nur individuell gelernt und sich damit den Umweltbedingungen angepasst. Sie seien außerdem in der Lage gewesen, die Erkenntnisse anderer Individuen in ihren eigenen Erfahrungshorizont zu integrieren und diesen auch weiterzugeben. Dieses sogenannte kumulative Lernen hätte die Entstehung komplexer und aufeinander aufbauender Wissensstrukturen erst ermöglicht, was Menschen zu einer einzigartigen Spezies im Tierreich mache. Auch andere Tierarten, insbesondere unsere nächsten lebenden Verwandten, die Menschenaffen, seien fähig zu lernen. Deren Wissensschatz fuße allerdings auf individueller Erfahrung und könne über einen gewissen »genetischen Horizont« hinaus nicht erweitert werden.
Im Projekt »STONECULT – Do early stone tools indicate a hominin ability to accumulate« soll untersucht werden, wann die Kulturformen des gemeinschaftlichen Lernens entstanden sind. Die Analyse von frühen Steinwerkzeugen ist dafür ein vielversprechender Ansatz. Jüngste Forschungen legen die Möglichkeit nahe, dass das Herstellen dieser Steinwerkzeuge vornehmlich das Ergebnis individuellen Lernens war, zu dem auch andere Spezies, wie zum Beispiel Menschenaffen, in der Lage sind. Die Formen früher Steinwerkzeuge sind, so nimmt Tennie an, zu einheitlich, um über moderne Kulturformen erklärbar zu sein. Kulturelles bzw. kumulatives Lernen hätte Werkzeuge hervorbringen müssen, die sich stärker unterscheiden. Mit dem STONECULT-Projekt möchte der Verhaltensforscher beurteilen, ob Funde früher Steinwerkzeuge den menschlichen oder aber den Menschenaffentechnologien ähnlicher sind. Je nach Ausgang des Projekts wird sich die zeitliche Vorstellung für die Entstehung menschlicher Kulturformen dann bestätigen oder aber radikal verändern.
Claudio Tennie (geboren in Bad Pyrmont, Deutschland) hat Biologie an den Universitäten Marburg, Edinburgh und Bielefeld studiert. 2009 promovierte er am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig über die Mechanismen beobachtenden Lernens bei Kleinkindern und Menschenaffen und forschte dort zwei Jahre als Postdoc. Von 2012 bis 2016 war er an der Universität Birmingham tätig, ehe er 2017 als Nachwuchsgruppenleiter an das Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Tübingen wechselte.
Mit dem Starting Grant unterstützt der Europäische Forschungsrat junge Wissenschaftler beim Aufbau einer unabhängigen Karriere und ihres eigenen Forschungsteams. Die Kreativität junger, vielversprechender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler soll gefördert und neue Ideen in die Forschungsfelder getragen werden. Die Ausschreibung erfolgt themenoffen und über alle Bereiche der Wissenschaft hinweg. Jedes Projekt wird mit bis zu 1,5 Millionen Euro über maximal fünf Jahre finanziert.