Endzeitfantasien um die erste Jahrtausendwende
Die Stickerei mit Bezug zu Endzeitfantasien befindet sich auf dem blauen Kunigundenmantel. Sie stellt den Leichnam Kaiser Neros dar, der von Wölfen zerrissen wird. »Diese Darstellung ist sehr selten und hat eine wichtige kunsthistorische Bedeutung«, erläutert Tanja Kohwagner-Nikolai. »Der Hintergrund ist, dass um die Jahrtausendwende viele Menschen Angst vor dem Weltuntergang hatten. Sie befürchteten, dass Kaiser Nero, der Christenverfolger, als Anti-Christ wiederkommen würde. Mit der Stickerei sagt Heinrich II. aus, dass Nero von den Wölfen endgültig vernichtet wurde und nicht wiederkommen kann. Wer an Christus glaubt und Heinrich folgt, kann auf Erlösung hoffen.«
Der blaue Kunigundenmantel blieb im Laufe der Jahrhunderte fast im Originalzustand erhalten – im Gegensatz zu anderen Bamberger Kaisergewändern. »Vor allem der weiße Kunigundenmantel und die Tunika wurden in den 1950er Jahren massiv verändert«, sagt Tanja Kohwagner-Nikolai. Die Kunsthistorikerin erklärt, dass die Restaurierung damals zu ästhetisch schönen Objekten führen sollte. Alle »unschönen« Reparaturen wurden entfernt: »Diese beiden Gewänder wurden in der Nachkriegszeit so stark verändert, dass wir heute wenig über ihr ursprüngliches Aussehen sagen können.« Näher an ihrem Originalzustand sind dagegen die drei weiteren Bamberger Kaisergewänder: der Sternenmantel Heinrichs II., der Reitermantel und das Rationale – ein liturgisches Würdezeichen. Tanja Kohwagner-Nikolai, Sibylle Ruß, Anne Dauer, Ursula Drewello und Martina Pristl führten an den insgesamt sechs Objekten kunsthistorische, technologische und materialanalytische Untersuchungen durch.
»Die Mäntel sind eine Sensation«
Wie die Kaisergewänder von ihrer Entstehung bis zum heutigen Erscheinungsbild verändert wurden, erarbeitete das Forschungsteam unter Leitung von Prof. Dr. Stephan Albrecht. »Die Mäntel sind eine Sensation«, bemerkt der Inhaber des Lehrstuhls für Kunstgeschichte, insbesondere Mittelalterliche Kunstgeschichte, an der Universität Bamberg. »Sie sind weltweit die einzigen goldbestickten Gewänder, die aus dieser frühen Zeit erhalten sind – noch dazu in einem insgesamt erstaunlich hohen Erhaltungsgrad.« Die Prachtgewänder entstanden zu Beginn des 11. Jahrhunderts und gelten als Stiftungen Kaiser Heinrichs II. (973 bis 1024) und seiner Gemahlin Kunigunde (um 980 bis 1033) an ihre Bistumsgründung Bamberg. Stephan Albrecht schildert, warum sie so selten sind: »Die Gewänder hatten Reliquiencharakter und wurden über Jahrhunderte hinweg repariert. Die meisten ähnlichen Mäntel wurden damals eingeschmolzen, um neue herzustellen.«
Das Forschungsprojekt »Kaisergewänder im Wandel – Goldgestickte Vergangenheitsinszenierung« dauerte von 2015 bis 2020. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) förderte es mit 380.000 Euro. Es gehört zum Forschungsschwerpunkt »Kultur und Gesellschaft im Mittelalter« der Universität Bamberg.
Die Ergebnisse werden auf mehreren Wegen veröffentlicht: Das Diözesanmuseum Bamberg zeigt noch bis zum 30. September 2021 eine Sonderausstellung. Die Multimedia-Reportage »Expedition ins Mittelalter« der Universität Bamberg präsentiert ausgewählte Fotos des Projekts. Im Buch »Kaisergewänder im Wandel – Goldgestickte Vergangenheitsinszenierung« rekonstruiert Dr. Tanja Kohwagner-Nikolai, Projektmitarbeiterin der Universität Bamberg, die Veränderungsgeschichte der Mäntel. Und voraussichtlich Ende 2021 stellt die Bayerische Akademie der Wissenschaften als Kooperationspartnerin rund 600 kommentierte Fotos der Gewänder auf dem Portal »bavarikon« online.