Im Gegensatz zu Latein – das zwar landläufig als eine »tote« Sprache gilt, in Wahrheit aber in allen romanischen Sprachen weiterlebt – gilt für Sprachen wie Hethitisch, das bis etwa ins frühe zweite Jahrtausend v. Chr. überliefert ist, dass es wirklich ausgestorben ist. Gelegentlich aber kommt es vor, dass Archäologen sogenannte Ostraka finden. Das sind Scherben antiken Tongeschirrs, die den Menschen zur damaligen Zeit schlichtweg als Notizzettel gedient haben. Inhaltlich geht das dort zu Entschlüsselnde zwar selten über das einer heutigen Alltagsnotiz hinaus. Doch ist es eben gerade die scheinbare Banalität des Alltäglichen, die Aufschluss über die lebensweltlichen Bedingungen der damaligen Zeit liefert. Entsprechend sei das Selbstverständnis des Indogermanisten per se nicht nur das eines Sprachwissenschaftlers, sondern gleichfalls das eines Kulturwissenschaftlers, erläutert Dr. Ziegler.
Gib mir endlich meinen Wasserbüffel
Wie anwendungspraktisch ihre neue Methode ist, davon zeugen die Rahmenbedingungen ihrer Entstehung: »Bei Ausgrabungen an einem römischen Kastell des Limes Tripolitanus in Libyen nahe der Halbwüste Hammadah al-Hamra fanden Archäologen vor zwei Jahren neben einigen lateinischen Inschriften unter anderem neun Ostraka aus der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts nach Christus«, erinnert sich die Indogermanistin. Keiner der zuerst hinzugezogenen Sprachwissenschaftler habe sie identifizieren können, jene »Notizzettel« aus der Antike. Durch Vermittlung des Münchner Ägyptologen Prof. Dr. Friedhelm Hoffmann wurde Dr. Sabine Ziegler durch den Archäologen Prof. Dr. Michael Mackensen mit der Aufgabe betraut. Der Jenaer Forscherin gelang es am Ende der akribischen wie spannenden Arbeit zu ermitteln, dass das eine große Ostrakon wohl den Charakter einer schriftlichen Mahnung hatte. »Der Urheber der Beschwerde mahnt an, dass ihm folgende Dinge nicht ausgehändigt worden seien, nämlich unter anderem Getreide, Ochsen, Wasserbüffel…«, weiß Ziegler nun. Bei der Sprache, erklärt sie, handelt es sich um eine dialektale Variante des Punischen; sie hat diese »Südpunisch« getauft.
Doch wie war ihr gelungen, woran etliche Experten zuvor gescheitert sind? Indem sie die Gesamtheit aller lautlichen, morphologischen, syntaktischen Merkmale und Eigenschaften gleichsam als DNA betrachtete – und das antike Sprach-Artefakt gleichsam einer Gen-Analyse unterzogen hat. Konzentriert und akribisch kam sie durch schrittweise Untersuchung des Textes auf bestimmte Merkmalstypen zu einer Methode, die durch ihre Exaktheit auf alle Buchstaben- und Silbenschriften anwendbar ist.
Die »Fingerabdrücke« der Sprache identifizieren
Ein Kriterium dabei ist unter anderem die statistische Häufung bestimmter Laute. Dies ist laut Ziegler im Hinblick auf eine Sprache »so typisch wie ein Fingerabdruck«. Ebenso markant ist die jeweilige Phonemstruktur – also die Folge von Konsonanten, Vokalen oder Konsonantengruppen. Zentral ist auch die Frage nach Art und Häufung sogenannter Funktionswörter ohne eigenständige Semantik – im Deutschen zum Beispiel »auch« oder »etwas«. Sie machen zwar im Durchschnitt nur etwa 0,05 Prozent des Gesamtwortschatzes, aber 40 bis 50 Prozent eines beliebigen literarischen Textes aus. Und so dechiffriert Dr. Ziegler nun mit ihrer Methode Texte aus unbekannten Sprachen – oder spricht darüber auf der ganzen Welt.