Untersuchung der Burg Cucagna

Studierende der Ur- und Frühgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin untersuchen die Burg Cucagna

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AusgrabungItalienMittelalterArchitektur

Das Mittelalter gilt einer breiten Öffentlichkeit immer noch als eine starre Welt mit festen Grenzen und ist mit dem Nimbus des "Dunklen Zeitalters" behaftet. Dass die Wirklichkeit aber von starken Veränderungen geprägt wurde und sehr diffizilen politischen Verhältnissen unterworfen war, lässt sich selbst in kleinräumigen archäologischen Untersuchungen feststellen, welche unser Geschichtsbild illustrieren können. Dieser Aufgabe stellt sich der Lehrstuhl für Ur- und Frühgeschichte an der Humboldt-Universiät zu Berlin. Neben Forschungsschwerpunkten wie der Siedlungsforschung und der Ethnoarchäologie wird hier vor allem europaweit die Archäologie des 1. Jahrtausends verfolgt. Dazu tragen auch die verschiedenen, vom Lehrstuhl für Ur- und Frühgeschichte selbst durchgeführten Grabungsaktivitäten bei. Diese konzentrieren sich in Form von Lehrgrabungen, die von den Studierenden als Praktika zu absolvieren sind, besonders in der vorlesungsfreien Zeit des Sommersemesters.

Eine der Lehrgrabungen, von Studierenden unter der Betreuung von Dr. Michael Meyer und Holger Grönwald organisiert und durchgeführt, fand in diesem Sommer bereits zum fünften Mal in Italien statt, wohin eine Gruppe Studierender aufbrach, um die archäologischen Untersuchungen an der mittelalterlichen Burgruine Cucagna fortzusetzen.

Cucagna gehört zu der kleinen Gemeinde Faedis, die den Wald der Hügel um die Burg und die Felder der fruchtbaren friulanisch-venetischen Ebene bewirtschaftet. Die Kammburg in einer Höhe von etwa 350m üNN gehört zu einem Befestigungssystem entlang der Ausläufer der Dinarischen Kette am nordöstlichen Rand der friulanischen Ebene. Sie war eines der festen Häuser adliger Familien in Norditalien, die meist Mittelpunkt einer Grundherrschaft oder eines Lehens waren. Mit der auf dem selben Bergkamm gelegenen, etwas jüngeren Anlage der Burg Zucco und einem befestigtem Stützpunkt am Fuße des Hügels bildete sie einen gut zu verteidigenden Komplex. Dieser kontrollierte die Straße von Gemona über Tarcento und Nimis nach Cividale und sicherte die Straße vom Pass Lonc über Plezzo in die friulanische Ebene.

Das bergige Grenzland von Friaul beherbergte im Hochmittelalter neben zahlreichen befestigten Siedlungen alle auch sonst in Europa anzutreffenden Burgentypen, wie Höhenburgen mit Rundsicht, Gipfel- und Kammburgen, Sporn- und Hangburgen. Durch Wasser gesichert Niederungsburgen und einfache Turmhügel befinden sich in der friulanischen Ebene.

Diese Bauwerke, mit einem rein funktionalen und von Schlichtheit geprägten Konzept, standen im Gegensatz zu den reich skulpturierten und umfangreich ausgestatteten Bauten des 13. und 14. Jh. Mittelitaliens nicht allzu oft im Blickfeld der schwerpunktmäßig kunsthistorisch orientierten Forschung.

Der Burgenforschung haftet wegen der einseitigen militärhistorischen Forschungsschwerpunkte des letzten Jahrhunderts nach wie vor ein zweifelhafter Ruf an. Mit dieser europaweit verbreiteten Erscheinung wird man auch in Italien und im Friaul konfrontiert, weshalb es nötig ist, sich mit der Forschungsgeschichte auseinander zu setzen. Den friulanischen Burgen ist in dieser Hinsicht eine besondere Brisanz eigen. Sie dienten zum einem bis zum Beginn des letzten Jahrhunderts als deutsche Gründungen der Belegung für einen Anspruch Österreichs auf die Region, während die italienische Gegenbewegung angebliche antike, römische Wurzeln der Burgen betonte und andere "Leitformen" formulierte. Beide Weltkriege und das Erdbeben von 1976 verursachten eine Konzentration auf Rekonstruktion und Wiederaufbau. Ansätze für eine weiter gehende Forschung bildeten sich nicht aus. Das romantische Klischee der Burg und die Heroisierung des Mittelalters wurde unkritisch weiter getragen und verleugnete zuweilen dessen Realität. Zentrales Thema war stets allein die herrschaftliche Burg.

Die Karolinger sahen im Friaul ein Bollwerk gegen die Awaren und wandelten es nach dem Vorbild anderer Grenzgebiete des Reiches in eine Mark um, also ein Grenzgebiet ihres Reiches, das daran angepasste Verwaltungsstrukturen und Aufgaben besaß. Diese hatten sich vor allem im Zuge der Landnahme der Ungarn zu bewähren. Ab dem Jahre 952 gehörte Friaul zum deutschen Reich, 976 fiel es an das Herzogtums Kärnten. Konrad II. und sein Sohn Heinrich III. sicherten ihre Dynastie unter anderem mit dem Ausbau des Landes Friaul und der Errichtung einer Vielzahl von Befestigungsanlagen im Vorfeld der Julischen Alpen, einer Region, die nach den Einfällen der Awaren und Ungarn als Achillesverse des Reiches galt. Cucagna zählt zu den ersten Befestigungsanlagen aus jenen Jahren. 1027, parallel zur Kaiserkrönung Konrads II., wurde nach der überlieferten Abschrift eines Dokumentes aus jenem Jahr der Grundstein zu dieser Burg gelegt. Cucagna befand sich damals in der Hand der aus Schwaben stammenden Familie Auersberg und diente in zweiter Linie der Sicherung eines neu formulierten Herrschaftsanspruches dieser Familie im Zentrum eines kleinen Lehens.

Die Burg hatte deshalb auch eine Schutzfunktion für die von ihr kontrollierten Siedlungen im Umland zu übernehmen. Die Burgherren blieben aber stets Vasallen und Repräsentanten der deutschen Herrschaft und der geistlichen Reichsfürsten, der Patriarchen von Aquileia. Diese genehmigten ab 1160 den Ausbau der Befestigung am Berghang von Cucagna. Der nach Italien ausgewanderte Zweig der Familie Auersberg konnte sich rasch in der Region etablieren und wurde laut schriftlicher Quellen wiederholt mit juristischen Ämtern betraut. Diese gehobene Position ermöglichte den Herren von Cucagna einen umfangreichen Besitz in ihrer Hand zu konzentrieren. Sie bauten ihre Burg aus, errichteten eine zweite am selben Berg und kauften Grundbesitz und mehrere Burgen im Umland auf. Als Kammerherren am Hofe des Patriarchen und in dessen persönlichen Dienst, befanden sie sich lange Zeit im Zentrum von Macht und Verwaltung der Region Friaul. Die Ära solcher Herren und ihrer Burgen war abgeschlossen, nachdem die Signoria von Venedig (Herrschaft des Stadtstaates) Friaul eroberte und die Neuzeit auch hier mit modernen Waffen und Festungen Einzug hielt. Für Friaul endete damit eine Zeit brutaler Fehden und Kleinkriege des niederen Adels, welche das Land zerrüttet hatten. Andererseits wurde es nun zum Spielball größerer machtpolitischer Interessen. Die Burgen blieben ab dieser Zeit sich selbst überlassen und erlebten nur als romantischer Zierrat der Landschaft eine kurze Renaissance.

Um die Erhaltung des noch vorhandenen Bestandes der Burgen im Friaul bemühen sich seit 1984 das Consorzio per la Salvaguardia dei Castelli Storici del Friuli-Venezia-Giulia und das Instituto per la Ricostruzione del Castello di Chucco Zucco - betreut durch die Soprintendenza ai Beni Archeologici del Friuli Venezia-Giulia. Die Bestrebungen dieser Einrichtungen sind mit umfangreichen Maßnahmen zur Sicherung, archäologischen Erschließung, Dokumentation sowie dem teilweisen Wiederaufbau einzelner Baukörper verbunden. Die im Fall von Cucagna sachgerechte, auf den vorhandenen Bestand beschränkte Sicherung und Rekonstruktion der Anlage mit ausschließlich originalen Baumaterialien, hat der Region ein bedrohtes Kleinod mittelalterlichen Wehrbaus erhalten und erschlossen. Das Ziel des Istituto per la Ricostruzione del Castello di Chucco Zucco ist dabei, ein bereits sei 23 Jahren immer wieder erfolgreich durchgeführtes, internationales Seminar zur Architektur des Mittelalters auf der Burg Cucagna zu etablieren.

Nach dem Beginn der notwendigen Sicherung einzelner Baukörper der Burg Cucagna durch das Instituto ab Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts, wurden in den 90er Jahren gezielte Ausgrabungen möglich. Seit dem Jahr 2000 finden diese in Gemeinschaft mit Studierenden vom Lehrstuhl für Ur- und Frühgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin statt, die dabei ihr studienbegleitendes Pflichtpraktikum absolvieren.

Während sich im Jahr 2000 die Arbeiten noch auf die Burg Zucco konzentrierten, wurden danach ausschließlich auf Cucagna archäologische Untersuchungen durchgeführt, welche durch die parallelen Restaurierungsaktivitäten überwiegend als baubegleitende Maßnahmen zu werten sind. Sie gewährleisten die sachgerechte Rekonstruktion der Baukörper und dienen der Dokumentation und Sicherung archäologischen Fundgutes. Außerdem wird hinterfragt, in welches historische Umfeld die Burgengründungen Friauls eingebettet waren, wie sich die regionale Funktion der Burg bei der Überwachung und dem Schutz der Landschaft in einem größerem System gestaltete und ob es sich um ein singuläres Wehrsystem handelte oder die Burg nur in einem größerem System funktionierte.

Ein Forschungsansatz und vor allem Bedarf für die Archäologie und Denkmalpflege/ Restaurierung besteht verstärkt seit dem bekannten Erdbeben von 1976 in Friaul, da bei den sich anschließenden Wiederaufbauarbeiten umfangreiche Veränderungen am Bestand der mittelalterlichen Bauwerke in der Region vorgenommen wurden. Cucagna blieb davon weitestgehend verschont. Durch die vollständige Offenlassung der Burg im ersten Viertel des 16. Jh. hat sich trotz spätmittelalterlicher Umbauten, Erweiterungen und späterer Zerstörungen der Burg hier ein einzigartiges Konglomerat unveränderter Bausubstanz des Hoch- und Spätmittelalters an einem mittelalterlichen Wehrsystem in seltener Authentizität erhalten. Von besonderem Interesse ist dabei nicht allein der Bergfried von Cucagna, der als einziger Wehrturm dieser Region seit dem Mittelalter unverändert überdauerte und nach der Rekonstruktion 1988 wieder zugänglich ist.

Die bisher erzielten Untersuchungsergebnisse resultieren aus einem interdisziplinären Forschungsansatz, der seit über 20 Jahren verfolgt wird und erfolgreich ausgebaut werden konnte. Inzwischen sind in die Arbeiten Archäologen, Architekten, Bauingenieure, Bauforscher, Museumskundler und Restauratoren eingebunden. Die Studierenden der HU bilden einen festen Kern in dieser bunten europäisch-internationalen Gruppe und konzentrieren sich auf die archäologischen Untersuchungen. Diese lieferten bisher zahlreiche neue Informationen über unbekannte und/oder nur hypothetisch angenommene Bauwerke der Burg und klärten offene Fragen zu deren Bauabfolge und dem Grundriss. Zudem waren Hinweise zur Datierung einzelner Bauphasen und -körper und ihrer Nachnutzung zu gewinnen. So wurden bisher die Umfassungsmauer der ältesten mittelalterlichen Anlage, zwei spätmittelalterliche Toranlagen mit Rampe sowie verschiedene Teilbereiche der Höfe und Hofbebauung aus der ersten und zweiten Bauphase untersucht. Durch die Dokumentation von Herd- und Feuerstellen, Pfostenstellungen, Anlagen im Zusammenhang mit Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, Abfallzonen sowie der Bergung archäologischen Fundgutes aller Art ließen sich zusätzliche Anhaltspunkte zur Nutzung und Ausstattung der Burg gewinnen. Neben der besseren zeitlichen Ansprache und Identifizierung einzelner Funktionsbereiche, lassen sich heute so verschiedene Verteidigungskonzepte unterscheiden.

Eventuell besaß Cucagna auch Bezugspunkte zu älteren Anlagen, wie dem Limes in den Julischen Alpen/Slowenien, dem Langobardischen Limes/Tractus Italicus oder der römischen Landaufteilung/-vermessung (Limitation). Ob man sich bei der Wahl des Standortes für die mittelalterliche Burg eines bereits existierenden, älteren Bauwerkes bediente, konnte archäologisch noch nicht geklärt werden. Die noch immer nachvollziehbaren Sichtachsenbezüge von Cucagna mit den Wehrbauten im näheren Umfeld und zu den Resten der römischen Landaufteilung/-vermessung legen aber nahe, dass die Limitation in der römischen Provinz Gallia cisalpina über die Spätantike hinaus auch noch im Mittelalter eine Grundlage für die Gestaltung der regionalen Verwaltungseinheiten darstellte. Da die Errichtung einer Burg dieser Gliederung und rein strategischen Gesichtspunkten unterworfen war, entstanden Parallelen zu römischen Befestigungen und Wachtürmen, ohne dass eine römische Belegung dieses oder vergleichbarer Standorte in der Region vorhanden gewesen sein muss.

Das Ziel der weiteren Untersuchungen ist, die Entwicklung der einzelnen Bauphasen im historischen Kontext darzustellen. Auf dieser Basis lässt sich mit dem bisher erschlossenen archäologischen Fundgut ein Lebensbild des Hoch- und Spätmittelalters rekonstruieren, welches frei von romantischer Verklärung den Alltag auf einer kleinen Adelsburg im Friaul illustriert (ein Vorgeschmack wird im Folgenden gegeben werden). Idealschnitte durch die Burg mit ihren Horizonten der verschiedenen Nutzungsphasen wurden dabei als stratigraphische Basis für die weitere Arbeit erstellt, während parallel ein virtuelles Modell die einzelnen Bauphasen visualisieren soll.