Der Archäologe als »Last Action Hero«

Heinrich Schliemann, der Held (1822-1890)

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Archäologie & GesellschaftWissenschaftsgeschichte

Wenn der Titel dieses Textes auf einen Arnold-Schwarzenegger-Film verweist, so hat dies mehrere Gründe. Natürlich will ich nicht verschweigen, daß der amerikanische Film als schnittiger "Aufreisser" dienlich ist. Darüber hinaus möchte ich durch die Referenz auf die zeitgenössische - unsere! - Populärkultur zwei Momente akzentuieren.

Zum einen möchte ich dazu einladen, Heinrich Schliemann nicht nur als historische - zweifellos etwas skurrile - Figur zu betrachten: Sondern ihn - im Gegenteil - auch unter den Prämissen der Moderne anzusehen. Nämlich: Als Selfmade-Man, als Selbstdarsteller und als als Selbst-Vermarkter. - Kurz: Als ein versierter Manager dessen, was man heute die "Ego"- oder "Ich-Aktie" nennt.

Zum anderen habe ich den griffigen Titel gewählt als eine Art Signal in Bezug auf die Autorin der folgenden Beobachtungen und Reflexionen: Es "spricht" hier weder eine Altphilologin noch eine Archäologin. Sondern es spricht eine Germanistin - im aktuellen Jargon eine "Kultuwissenschafterin" genannt. Eine Literaturwissenschafterin also, die Themen und Motive quer durch die Texte und Zeiten verfolgt.

Wenn ich mich mit dem publizistischen Werk Heinrich Schliemanns gewissermassen "literarisch" befasse, so heisst man dies in der Fachsprache einen "erweiterten Literaturbegriff". Literatur wäre demnach (frei nach Ludwig Wittgenstein formuliert) alles das, was der "Fall" bzw. was der "Text-Fall" ist.
So seien nun Bühne und Tisch bereitet für SCHLIEMANN, DEN HELDEN und - wie die Amerikaner bei Beginne eines gemeinsamen Mahles sagen: "Let's dig in!"

Die sensationelle Entdeckung Trojas und die Bergung des mykenischen Goldes durch einen bis dato unbekannten Laien verleihen der Figur Schliemanns schon für die Zeitgenossen eine Aura des Wunderbaren. Und auch für die Nachwelt behält sie durchaus märchenhafte und romaneske Züge: Plötzlich und gleichsam aus dem Nichts tritt da ein dilettierender Privatier in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses und verkündet, er habe nichts Geringeres als das sagenhafte Troja gefunden. Schliemann tritt mit handfesten archäologischen Realien den Beweis an für die faktische Wahrheit der mythischen Erzählungen. Seine "pragmatische" Homerlektüre verknüpft Literatur direkt mit der Archäologie: Sie liefert nach rund dreitausend Jahren gewissermaßen die Illustrationen zum Text und übersetzt die literarische Ekphrasis Homers in archäologische Fundprotokolle.

I. Das Leben. Ein Werk

Die 1881 erstmals publizierte "Selbstbiographie", in welcher Heinrich Schliemann Fakten und Fiktionen kühn verquickt, liefert ein Lebens-Abenteuer, wie es die Belletristik gerne erzählt. Das bürgerliche Publikum kann in den Passagen über Reisen und Grabungen das Außergewöhnliche, Abenteuerliche und Sensationelle goutieren. Zugleich mag die Gesellschaft an der Geschichte eines sozialen Aufsteigers die eigenen Werte modellhaft bestätigt sehen. In der Selbstbiographie läßt sich beobachten, wie sich ein Held auf romaneske Weise selbst inszeniert.

Die enorme "literarische" Produktion Schliemanns dokumentiert einerseits den auch beim Schreiben expansiven Zug des archäologischen Entreprenneurs. Andererseits zeigt sie die sukzessive Metamorphose vom beschaulich betrachtenden Laien zum aktiven Ausgräber und autodidaktisch - learning by doing ! - herangebildeten Fachmann.

Zehn Bücher über die Troas, über Reisen und Ausgrabungen erscheinen zwischen 1869 und 1891 allein in deutscher Sprache, nicht mitgerechnet die oft noch im Erscheinungsjahr lancierten französischen und englischen Versionen Das "Ithaka"-Buch (1869), die "Troas"-Publikation (1881) und das im selben Jahr herausgekommene "Orchomenos"-Buch erscheinen als klassische Reiseberichte in Tagebuchform. Auch die frühen archäologischen Veröffentlichungen über Troja und Mykene behalten zwar die Struktur des Tagebuchs bei, wenden sich jedoch zunehmend ab von der horizontalen Begehung der Erdoberfläche. Sondern: Sie fokussiseren zunehmend den vertikalen Vorstoß nach Verschüttetem. Das bisher unergründete Neuland des trojanischen virgin soil tritt in den Vordergrund der Berichte: Das Grabungstagebuch registriert nun keine Streckenfortschritte mehr, sondern Tiefen-Etappen. An die Stelle des traditionellen Landschafts- und Kulturraumes tritt nun ein Reich der Erden und Scherben, der Schutte und Schichten, kurz: eine Welt von Objekten und Artefakten, deren Eigenarten es zu vermitteln gilt.

Die Handlungsspiele organisieren sich nun also vertikal und zeitigen mit dem Wortfeld "aufgraben" bzw. "aufbrechen" ein Vokabular der erobernden Aneignung, welches das physische Ringen gegen die widerständige Materie suggeriert. Ein solcher Kampf, seine Prämien und deren Klassifikation verlangen nach einer neuen Form der Darstellung.

Können Funde und Objekte im Troja-Buch von 1874 noch als aufzählend-beschreibende Einschaltungen in das Tagebuch integriert werden, so verlangt das Faktische zunehmend Eigenraum und adäquate Präsentation. Die genaue Analyse einzelner Objekte wird zunehmend den Fachleuten überlassen und in einem Anhang plaziert: In der Ilios-Publikation umfaßt der von fremden Stimmen gelieferte Anhang mit seinen fast 100 Seiten rund ein Achtel des schwergewichtigen Buches. Es gilt, Zweifel an der Echtheit der Funde, an der Glaubwürdigkeit der Berichte und an der grabungstechnischen Angemessenheit zu entkräften.

Trotz der Tendenz zur Objektivierung der Darstellung verschwindet das Ich Schliemanns mit seinen Posen und Rollen jedoch nur höchst selten völlig aus dem Text: Dafür sorgt zum einen die ungebrochene Wirkungsabsicht des Schriftstellers Schliemann und zum anderen die Natur des Mitgeteilten.

Im Reisebericht dient das erlebende Ich als Wahrnehmungsinstanz: Also als Spiegel und Linse für das offensichtlich Vorhandene. Im Grabungsbericht hingegen muß die erzählbare Welt vom Archäologen und Berichterstatter ausgegraben - und damit überhaupt erst "geschaffen" werden: Erst seine Aktion, erst sein handelnder Eingriff fördern das Beschreibbare zu Tage. Erst seine aktive Intervention macht das Latente sicht- und damit beschreibbar.
Zugleich hebt die Dynamik des Grabens, Sammelns und Interpretierens die Statik und Isolation der Fundstücke auf und stiftet damit: einen erzählbaren Sinn in erzählbarer Form.

Individuelle Mission und wissenschaftliches Erfolgs- und Erkenntnisstreben geben den telelogischen Rahmen ab für das "Projekt Troja": So kann das entstehen, woran Schliemann mit dem runden Dutzend seiner archäologischen Publikationen wie an einem einzigen Buch fortschreibt: Eine erzählbare Geschichte, einen archäologischen Lebens-Roman.

II. Masken, Rollen, Posen

"Wenn ich dieses Werk mit einer Geschichte des eigenen Lebens beginne", schreibt Schliemann in der dem Ilios-Buch als Einleitung vorangestellten Autobiographie, "so ist es nicht Eitelkeit, die mich dazu veranlaßt, wol aber der Wunsch, klar darzulegen, dass die ganze Arbeit meines späteren Lebens durch die Eindrücke meiner frühesten Kindheit bestimmt worden, ja dass sie die nothwendige Folge derselben gewesen ist". (SCHLIEMANN Ilios, S. 1)

Schon das mecklenburgische Dorf Ankershagen trägt mit Hünengräbern und einem reichen Fundus von Lokalsagen zur archäologischen Sozialisation des kleinen Heinrich bei. Hier werden, so Schliemann, "Hacke und Schaufel für die Ausgrabung Trojas [....] geschmiedet und geschärft". (SCHLIEMANN Ilios, S. 1)

Die konkrete Troja-Urszene ereignet sich im dortigen Pfarrhaus kurz nach Weihnachten des Jahres 1829 bei Gelegenheit eines Gespräches zwischen Vater und Sohn über eine Illustration aus Ludwig Jerrers "Weltgeschichte für Kinder". Bereits zuvor hatte Ernst Schliemann dem jungen Heinrich "bewundernd die Thaten der Homerischen Helden und die Ereignisse des Trojanischen Krieges" erzählt.

Aber auf meine Frage, ob denn das alte Troja einst wirklich so starke Mauern gehabt habe, wie sie auf jenem Bilde dargestellt waren, bejahte er dies. 'Vater', sagte ich darauf, 'wenn solche Mauern einmal dagewesen sind, so können sie nicht ganz vernichtet sein, sondern sind wol unter dem Staub und Schutt von Jahrhunderten verborgen.' Nun behauptete er wol das Gegentheil, aber ich blieb fest bei meiner Ansicht und endlich kamen wir überein, dass ich dereinst Troja ausgraben sollte. (SCHLIEMANN Ilios, S. 4f.)

Nie wird Schliemann es müde, den Topos von der Erfüllung des Jugendtraumes in seinen archäologischen Schriften zu beschwören. Da der solcherart Prädestinierte seine diesbezüglichen Äußerungen erst nach Auffindung des sagenhaften Troja publiziert, erscheint das persönliche telos stets als erfülltes und sein Lebenslauf logisch und erfolgreich. Ex post perspektiviert sich diese Vita mit allen ihren Aspekten auf Grabungserfolg und Entdeckungsmoment.

Mit der Selbstinszenierung als Enthusiast kann Schliemann einerseits ein Bild von idealer Reinheit evozieren und andererseits das praktisch-konkrete Durchhaltevermögen am Grabungsort gefällig motivieren.

Wenn er und Sophia im entbehrungsreichen Winter 1873 "viel leiden müssen", so können sie die Kälte tagsüber "noch einigermaßen ertragen, indem wir in den Ausgrabungen mitarbeiteten": "Abends aber hatten wir weiter nichts als unseren Enthusiasmus für das große Werk der Aufdeckung Trojas, um uns zu erwärmen." (SCHLIEMANN Altertümer, S. 32)

Entsprechend konstituiert das Motiv des Enthusiasmus ein wesentliches Moment innerhalb der populären Schliemann-Rezeption. In der Pose des Enthusiasten entrollt sich das Bild des Helden bei der einsamen Erfüllung und Verwirklichung seiner Mission.

III. Der Archäologe als Held

Illustrieren diese Posen die sozusagen zivilen Wirkungsabsichten des Autors, so gilt dies umso mehr für die wissenschaftliche Selbstdarstellung. Es ist charakteristisch für Schliemann, daß er das "Wissenschaftliche" zumeist mit Bildern von Pionier- und Heldentum verknüpft. Muß der wissenschaftliche Held und Pionier mitunter Grenzen markieren, so sind es durchwegs vom Forschungsobjekt bedingte: Gemessen an der Grandiosität des Projekts, das verlorene "Troja aufzufinden", nehmen sich die übrigen Ansprüche Schliemanns als "höchst bescheiden" aus:

Er rechne nicht damit, "plastische Kunstwerke zu finden", sondern sei "überaus zufrieden", wenn er "ins tiefste Dunkel der vorhistorischen Zeit vorzudringen" vermöge. So hofft er, auf diese Weise die "Wissenschaft zu bereichern durch die Aufdeckung interessanter Seiten aus der urältesten Geschichte des großen hellenischen Volkes". (SCHLIEMANN Altertümer, S. 50)

Damit präsentiert sich Schliemann als interesseloser Diener an der Wahrheit und hebt einmal mehr seine heldenhaften Leistungen hervor: Diese seien, nota bene, nicht als individuelle Selbstverwirklichung, sondern als Gewinn für Gesellschaft zu verstehen:

Möge dies heilige, erhabene Denkmal von Griechenlands Heldenruhm fortan", ruft er im Troja-Buch pathetisch aus, "ein Wallfahrtsort werden für die wissbegierige Jugend aller künftigen Generationen und sie begeistern für die Wissenschaft, besonders für die herrliche griechische Sprache und Literatur. (SCHLIEMANN Altertümer, S. 128)

Wiederholt verweist Schliemann auf die Gefährlichkeit der "Ausgrabungen, wo man es mit Erdwänden von 53 1/2 Fuß senkrechter Tiefe zu tun" hat. Angesichts der "furchtbare[n] Gefahr [...], der wir alle ausgesetzt sind", schliesst er sein Tagwerk mit einem formelhaften Dankgebet "für den großen Segen, daß [...] wieder ein Tag ohne Unglück hingegangen ist". (SCHLIEMANN Altertümer, S. 84)

Vermöge der "Geistesgegenwart" des Erzählers kann im März 1873 ein Brand der Wohnbaracke bekämpft und können die Bewohner vor dem "Verbrennungstode" bewahrt werden. - Wie andere abenteuerlich-episodische Highlights wird dieses Ereignis sowohl im aktuellen Tagesbericht (SCHLIEMANN Altertümer, S. 184f.) als auch in der autobiographischen Rückschau (SCHLIEMANN Ilios, S. 33f.) in fast wörtlicher Übereinstimmung geschildert.

Heldenhafter physischer Einsatz, Geistesgegenwart, kairos des Fundes und interesselose Bereicherung der Wissenschaft vereinen sich in der berühmten - (und wohl nur bedingt den Tatsachen entsprechenden ) - Sequenz über Auffindung und "Rettung" des "Schatz des Priamos":

Um den Schatz der Habsucht meiner Arbeiter zu entziehen und ihn für die Wissenschaft zu retten, war die allergrößte Eile nötig, und, obgleich es noch nicht Frühstückszeit war, so ließ ich doch sogleich paidos [...] ausrufen. Und während meine Arbeiter aßen und ausruhten, schnitt ich den Schatz mit einem großen Messer heraus, was nicht ohne die allergrößte Kraftanstrengung und die furchtbarste Lebensgefahr möglich war - - - denn die große Festungsmauer, welche ich zu untergraben hatte, drohte jeden Augenblick auf mich einzustürzen. Aber der Anblick so vieler Gegenstände, von denen jeder einzelne einen unermeßlichen Wert für die Wissenschaft hat, machte mich tollkühn, und ich dachte an keine Gefahr. Die Fortschaffung des Schatzes wäre mir aber unmöglich geworden ohne die Hilfe meiner lieben Frau, die immer bereit stand, die von mir herausgeschnittenen Gegenstände in ihren Shawl zu packen und fortzutragen. (SCHLIEMANN Altertümer, S. 217)

Mit der berühmten Passage um den Fund des Schatz des Priamos sind wir an dem von Justus Cobet benannten "Kreuzungspunkt" dreier Mythen angelangt: dem Mythos von Troja, dem Mythos von der Archäologie als Spatenwissenschaft und dem Mythos der schillernden Figur Heinrich Schliemanns.

IV. Der Archäologe als Produzent

Auch die Bemerkungen des Autors zur cura sui, zur Hygiene des Selbst können als Text- Bausteine eines Helden-Denkmals gelesen werden: Die von Schliemann weitschweifig berichteten Maßnahmen zur Erhaltung und Wiedergewinnung der eigenen Gesundheit verfehlen ihre Wirkung nicht - ja, sie werden vom zeitgenössischen Publikum nachgerade als vorbildliche Selbstzucht, als Modell für Stählung und Abhärtung angenommen:
Schliemanns Morgenbäder um vier Uhr früh sind als in Ithaka, Tiryns und Hissarlik täglich vollzogene Morgenrituale zu fast sprichwörtlicher Berühmtheit gelangt. Auch die Selbstkuren gegen Malaria mittels Chinin und schwarzem Kaffee gehören hierher.

Solche Hinweise auf die physische Konstitution des Archäologen, ihre Pflege und Erhaltung, sind nicht nur als Versuch einer effektvollen Inszenierung des Heldenkörpers zu deuten. Sondern sie bilden auch einen Aspekt der Produktionsbedingungen archäologischer Arbeit, deren genaue Schilderung in keinem der Berichte fehlt.

Zur Darstellung dieser Produktionsbedingungen gehören:

  • die penibel aufgezeichneten meteorologischen und klimatischen Verhältnisse
  • genaue Statistiken über Anzahl und Entlohnung der Arbeiter
  • die Art und Praktikabilität der Werkzeuge

sowie letztlich die Mittel zur Aufrechterhaltung der physischen Arbeitskraft.

Breiten Raum in den Schriften Schliemanns nehmen die Notizen betreffs der Proviantierung des Stabes ein: Das ehemals mit Schliemann assoziierte Handelshaus Schroeder stellt eine "bedeutende Menge Conservenbüchsen mit Rindfleisch aus Chicago, Pfirsichen und Ochsenzungen, ferner auch 240 Flaschen des besten englischen Pale Ale" zur Disposition. Hinzu kommen lokale Viktualien wie "frisches Hammelfleisch", "trojanische[r] Wein" und saisonale Agrarprodukte. (SCHLIEMANN Troja, S. 7f)
Ähnliches gilt für das Arsenal der Werkzeuge: Von "J. Henry Schroeder u. Comp. in London" erhält Schliemann die "besten englischen Hacken und Schaufeln" und "60 ausgezeichnete englische Schiebekarren mit eisernen Rädern". (SCHLIEMANN Alterthümer, S. 62)

Ein stereotypes Textritual führt also zunächst diesen 'Werkzeugkasten' (SCHLIEMANN Troja, S. 10f.) vor, schildert dann den Verlauf der Arbeiten (SCHLIEMANN Troja, S. 10f.) und präsentiert mit dem Fundbericht schließlich das Ergebnis der Anstrengungen. Die am Beginn eines Tagebucheintrags notierte Statistik der Produktionsmittel und -kräfte sowie der notwendigen Aufwendungen in Form von Lohnkosten stehen in der Relation von Investition und Gewinn zur Auflistung der archäologischen Funde:

Die mykenischen Waffen, die kostbaren Gefäße und Schmuckgegenstände, letztlich die Goldmasken lohnen den Einsatz von Arbeit und Material in reichlicher Form. In Troja, wo neben dem Schatz des Priamos auch eine Vielzahl prähistorischer Utensile gefunden wird, kommt es zu bemerkenswerten Äquivalenzen zwischen den Werkzeugen aus ältester und denjenigen aus allerneuester Zeit: Hie die modernen britischen Metallgeräte, dort die prähistorischen "Hämmer und Beile", manche davon sind gar "hübsch gearbeitet[...]". (SCHLIEMANN Alterthümer, S. 167)

V. Die Grabung als Prozess

Ist solcherweise das Szenario der Produktionsbedingungen umrissen, kann gegraben werden. Die Resumées der rezenten Grabungsfortschritte sparen freilich nie mit superlativischen und formelhaften Epitheta:

Der mit der "größten Energie" unternommene Grabungsabschnitt, die unter "größten Schwierigkeiten" und "größten Mühen" dem Erdreich abgerungenen Gräben, Schachte und Objekte. Nie fehlen Hinweise auf den Entbehrungsreichtum der Grabung und nie die Implikation außerordentlicher Leistungen und Fortschritte.

Die Tagebücher bilden demnach ein ständiges Resumée des Fortschritts: Als Gewinn an Tiefe. Als Gewinn von Objekten, Als Gewinn von Einsichten. - Der Prozeß der Niederschrift vollzieht denjenigen der Grabung nach. Das Fortgraben bedingt das Fortschreiben und die Tiefe der Einsichten scheint mit der Tiefe der abgeteuften Schachte zu wachsen. - Wenn nicht alle Schachte zum Urboden führen und nicht jede Grabung auf Gold stößt, so liefert - analog dazu - auch der Tagebuchbericht keine Dokumentation eines stetigen, linearen Wachstums: - Sondern er legt vielmehr Zeugnis ab von manch hypothetischer Sackgasse und manch spekulativem Blindgang.

Wiederholt muß der Archäologe eine "früher ausgesprochene Meinung [...] durchaus widerrufen" (SCHLIEMANN Alterthümer, S. 214), so daß die Re-Vision materieller Evidenzen eine ständige Re-Version des Textes bedingt. Wie Schichten legen sich diese Revisionen und Versionen sukzessive übereinander und werden - dies ist bemerkenswert - nicht einfach durch Redaktion und Tilgung gelöscht.

VI. Der Ruf nach Poesie

Notwendig aus dem Charakter - gerade der prähistorischen! - Archäologie als Wissenschaft von den Dingen resultierend nimmt die Beschreibung von Objekten einen breiten Raum ein. Anders als die Poetologen und Literaten seiner Zeit hält sich Schliemann nicht lange mit dem 'Realismusproblem' auf, sondern entwickelt mit der ihm eigenen Pragmatik verschiedene Modalitäten der Beschreibung: Analogie, Benennung und Unsagbarkeitstopos.

So erscheint das "Schatzhaus des Atreus" zu Mykene einmal als "Dom", ein anderes Mal als "umgekehrte[r] Bienenkorb" (SCHLIEMANN Mykenae, S. 48). Die Hälse einiger in Troja gefundener Vasen erinnern an "Schornsteine" (SCHLIEMANN Alterthümer, S. 96 u. 100; DERS. Mykenae, S. 73ff.) und Steinblöcke türmen sich übereinander "wie riesige Kirchenorgeln" (SCHLIEMANN Troas, S. 19). - Allerdings offenbaren sich die Grenzen solcher Rückgriffe auf vermeintlich Bekanntes dort, wo der Autor das Analogiebild aus einer (lokal) begrenzten Kultur bezieht, etwa im Falle eines "sonderbaren" Bechers "in der Form einer Mecklenburger Plutensemmel ". (SCHLIEMANN Alterthümer, S. 131)

In diesem Zusammenhang wäre auch Schliemanns berühmte Neigung zu zugkräftigen Benennungen wie "Schatz des Priamos" (Hissarlik) oder "Schatzhaus des Atreus" (Mykene) zu sehen: Hier wird dem materiellen Fundstück oder -komplex ein konkreter Ort sowohl im homerischen Text als auch in der realen Geographie zugeordnet. Entsprechend spielen diese Benennungen und Identifizierungen eine bedeutende Rolle in der (applaudierenden) Schliemann-Rezeption. Allerdings bieten sie auch willkommene Ansatzpunkte für wissenschaftliche Kritik und populären Spott. Namentlich das Satiremagazin "Kladderadatsch" greift das Muster der homerischen Attributierungen von Objekten wiederholt auf, um es auf beliebige Trivia und Ephemera anzuwenden.

Rudolf Virchow hingegen verteidigt Schliemanns Namensgebungen als Antidot gegen die Prosa wissenschaftlicher Verhältnisse: "Berauben wir uns", schreibt der große Pathologe, "doch nicht ganz unnöthigerweise aller Poesie."

Vielleicht kann dieser, an die " Kinder einer harten und oft recht prosaischen Zeit " adressierte Ruf nach Poesie als Indiz dafür gelten, daß es in einem an Naturwissenschaft und Empirie orientierten Wissenschaftsfeld (noch) die Archäologie ist, die eine Möglichkeit von Romantik bereitzustellen vermag. Gerade in dieser Offenheit der Archäologie gegenüber den Spielen der Phantasie besteht ihr Skandalon und ihr Faszinosum zugleich.

Heinrich Schliemann kann, wie er selbst zugibt, "natürlich nicht beweisen, daß der Name des Königs, des Besitzers des Schatzes, wirklich Priamos war", beruft sich jedoch auf Homer und die immerhin bestehende Möglichkeit einer solchen Identifizierung (SCHLIEMANN Alterthümer, S. 6). Auch in Mykene verknüpft Schliemann die Objektfunde mit der textuellen Überlieferung und verkündet, "dass ich hier die Gräber gefunden habe, welche Pausanias [...] dem Atreus, [...] der Cassandra und ihren Gefährten zuschreibt" (SCHLIEMANN Mykenae, S. 114). Anordnung, Ausstattung und Zustand der in Mykene geöffneten Gräber weisen auf eine Massenbestattung hin und werden in Zusammenhang mit dem von Klytaimnestra und Aigisthos an Agamemnon und seiner Gefolgschaft verübten Massenmord assoziiert. (SCHLIEMANN Mykenae, S. 384f.)

Schliemanns archäologischer Irrtum hinsichtlich des Alters der Gräber und Schätze ist in diesem Kontext weniger bemerkenswert als die Tatsache, daß die berühmten und heute noch gebräuchlichen Schlagwortprägung "Goldmaske des Agamemnon" bei Schliemann in dieser Form nicht erscheinen:

Im Mykene-Buch findet sich für die im fünften Grab gefundene "massiv goldene Maske" mit "rein hellenische[n] Gesichtszüge[n]" (SCHLIEMANN Mykenae, S. 357f.; Vgl. Abb. 474) keine solche Benennung. Auch in der Autobiographie fehlt ein ähnlicher Terminus. Vielleicht hat Schliemann die Termini "Goldschatz" bzw. "Goldmaske des Agamemnon" in seinen Zeitungsartikeln geprägt und verbreitet. Denkbar wäre eine solche Nominierung auch von seiten der Rezeption: In Analogie zum "Schatz des Priamos", dem "Schatzhaus des Atreus" oder dem "Becher des Nestor" (Vgl. SCHLIEMANN Mykenae, S. 273f., Abb. 346) könnte es zu diesen Bildungen gekommen sein.

Der für Schliemann charakteristische Akt der Benennung einzelner Fundstücke oder -ensembles dient einerseits zur Aneignung und Annäherung des Fremdartigen und plaziert andererseits die archäologischen Objekte im System der griechischen Mythologie. Ob intendiert oder nicht, funktionieren solche Formelprägungen und Schlagwortbildungen letztlich als ideale Reklame-Vehikel.

In seiner psychoanalytischen Studie über Schliemann hat Wilhelm G. Niederland ein "früh libidinös verankerte[s] Interesse" (NIEDERLAND Schliemann, S. 579f.) an Gräbern, Grabstätten und Grabsteinen konstatiert. Dieses "aufgeladene Begehren" äußere sich in der archäologischen Neugier schlechthin. Aber auch in einem nachgerade "familiäre[n]" Umgang des Archäologen mit seinen Funden. Gerade die Sprechakte der Benennung sind in dieser Hinsicht aufschlußreich: Beziehen sich Namen wie "Schatz des Priamos" und "Grab des Agamemnon" auf Objekte, so unterzieht Schliemann auch reale Menschen solcher "Homerisierung" (Joachim Wohlleben): Heinrich und Sophias Kinder heissen nicht zufällig Andromache und Agamemnon.

Eine Passage aus dem 1874 erschienenen Troja-Band bestätigt solche Annahmen über die libidinösen Bezüge des Forschers zu seinem Untersuchungsgegenstand: Am 14. August 1874 belohnt sich Schliemann im Tagebuch für seine Mühe und Arbeit durch einen feierlichen Taufakt:

Schließlich schmeichle ich mir mit der Hoffnung, daß als Belohnung für meine riesenmäßigen Kosten und alle meine Entbehrungen, Drangsale und Leiden in dieser Wildnis, vor allem aber für meine wichtigen Entdeckungen die zivilisierte Welt mir das Recht zuerkennt, diese heilige Stätte umzutaufen, und im Namen des göttlichen Homer taufe ich sie mit jenem Namen unsterblichen Ruhmes, welcher das Herz eines jeden mit Freude und Enthusiasmus erfüllen; ich taufe sie mit den Namen Troja und Ilium, und ich nenne Pergamos von Troja die Akropolis, wo ich diese Zeilen schreibe. (SCHLIEMANN Alterthümer, S. 134)

Von nun an lokalisiert der Archäologe alle Tagebucheintragungen mit dieser Sigle.

Wie Richard Wagner mit seiner "Villa Wahnfried", wie Karl May mit der "Villa Shatterhand" in Radebeul, wie Hans Makart in seinem berühmten Wiener Atelier und wie Giuseppe Verdi mit seinem Landgut bei Busetto, ja, noch wie ernst Haeckel mit seiner "Villa Medusa" in Jena:

Heinrich Schliemann errichtet sich grabend am Hügel von Hissarlik sein persönliches künstliches Paradies.

Dr. Christiane Zintzen
Mondscheingasse 17/7
1070 Wien
Tel. / FAX 522 20 66

Literatur

  • Heinrich Schliemann, Ilios, Stadt und Land der Trojaner. Forschungen und Entdeckungen in der Troas und besonders auf der Baustelle von Troja. Mit einer Selbstbiographie des Verfassers etc. (Leipzig 1881).
  • Ders., Trojanische Alterthümer. Bericht über die Ausgrabungen in Troja. Hg. u. eingel. v. M. Korfmann [=Nachdruck der Ausgabe von 1874] (München, Zürich 1990).
  • Ders., Troja. Ergebnisse meiner neuesten Ausgrabungen (Leipzig 1884).
  • Ders., Bericht über meine Forschungen und Entdeckungen in Mykenae und Tiryns. Mit einer Vorrede von W. E. Gladstone (Leipzig 1878).
  • Wiliam G. Niederland: Analytische Studie über das Leben und Werk Heinrich Schliemanns. In: Psyche 10 (1965), S. 563-590.
  • Emil Ludwig, Schliemann. Geschichte eines Goldsuchers. Mit einer Einleitung von Arthur Evans (Berlin, Wien, Leipzig 1932).

Buchtipp

Christiane Zintzen
Von Pompeji nach Troja. Archäologie, Literatur und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert.
Wien: WUV Universitätsverlag 1998

"... daß dieses Buch zu den besten kulturgeschichtlichen Abhandlungen gehört, die ich in die Hand bekam, daß man es voller Spannung liest, aufs Höchste bewundert und außerordentlich viel daraus lernt."
(Bernhard Andreae, Deutsches Archäologisches Institut, Rom)