Im Schatten Solimanas

Archäologie im tiefsten Canyon der Welt

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Zum dritten Mal kletterten Willy und ich den matschigen steilen Hang nach oben. Von den Bewohnern Yumascas wußten wir, daß auf der anderen Seite der hoch über dem Dorf aufragenden Klippen einige Gräber zu finden sein sollten. Unser Problem war nur, den Weg dorthin zu finden. Der schmale Pfad, dem wir gefolgt waren, hatte irgendwann aufgehört, und jedesmal wenn wir einen anderen Weg einschlugen, stießen wir nur auf Kakteen, blanke Felsen oder, wie in einem anderen Fall, auf einen wütenden Bullen. Bei unserem dritten Versuch konnte ich mit Willys kräftigen und ausholenden Schritten nicht mehr mithalten und fiel schnell zurück. Er verschwand hinter der Bergkuppe und wenige Minuten später hörte ich ihn auf Spanisch rufen: „Justin, komm her, komm her, wir haben es gefunden!“ Mit neuer Energie eilte ich über den Hügel und kam zu der Stelle, die Arcopunko genannt wird.

Der Name Arcopunko bedeutet in der Quechua-Sprache „Steinerner Bogen“ und es war deutlich zu sehen, warum der Platz diesen Namen erhalten hatte. Die Gräber waren in einer Höhle am Fuße einer großen Sandsteinklippe angelegt worden, die in einem steinernen Bogen endete. Ich sah mindestens 10 Gräber in der Höhle und wie wir später feststellten, waren ungefähr 50 Individuen hier bestattet worden. Die Gräber waren quadratisch oder rechteckig und in drei Etagen angeordnet. Willy winkte mir ungeduldig, doch endlich weiterzugehen, denn er hatte dankenswerterweise auf mich gewartet, bevor er die Höhlen erkunden wollte. Obwohl alle Gräber beraubt worden waren, fanden wir noch verschiedene Textilien, darunter einen viereckigen Hut in prächtigen Farben und Umhänge. Außerdem fanden wir eine komplett erhaltene Mumie. Der in gebeugter Haltung von einem Netz aus Schilfgras zusammengehaltene Körper war noch gut erhalten. Die Keramikfragmente, die Willy und ich dort einsammelten, datieren in die Zeit zwischen 600 und 1400.

Die Entdeckungen dieses Tages waren Teil eines langjährigen Projektes zur Untersuchung der Vorgeschichte des Cotahuasi-Tales in Peru, das mit einem Höhenunterschied von bis zu 3500 m zwischen Talsohle und umgebenden Bergspitzen der tiefste Canyon der Welt ist. Der Canyon ist ein tiefer Spalt umgeben von schneebedeckten Bergen, wie dem Ampato, dem Solimana und dem Coropuna, die wegen der auf ihren Gipfeln entdeckten inkazeitlichen Menschenopfer Berühmtheit erlangten. Obwohl das Cotahuasi-Tal heute eine zwölfstündige knochenzermürbende Busfahrt von der Stadt Arequipa entfernt ist, diente es früher als natürlicher Korridor von der Sierra zum Meer. Die vielfältige Geschichte dieses Gebietes reicht zurück bis in die Zeit um 6000 v. Chr. Im Gegensatz zu anderen Gebieten Perus sind die Fundstellen hier in den meisten Fällen sehr gut erhalten und die lokalen Behörden sind Archäologen gegenüber freundlich gesinnt. Dennoch ist die archäologische Forschung in diesem Tal ist nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag.

Im zentralen Andengebiet lebten die Menschen früher – und meist auch heute noch – von Ackerbau und Viehzucht. Die Siedlungen wurden im Allgemeinen auf halber Höhe der Hänge des Tales angelegt, damit man am einen Tag hangabwärts den Mais auf den Feldern bestellen und am anderen Tag hangaufwärts die Lamas zu weiden konnte. Erst während der Reformen der Spanier in den 1570er Jahren wurde ein Großteil der Menschen gezwungen, in größeren Städten auf der Talsohle zu siedeln. Die meisten Leute leben heute in diesen Städten und auch wir mieteten ein Haus in einer davon, in Lucha.

Dieses Produkt der spanischen Politik sozialer Kontrolle ließ mich im Laufe von acht Monaten 15 kg Gewicht verlieren. Um zu den archäologischen Fundplätzen zu gelangen mußten wir nämlich meist 1000 Höhenmeter auf schmalen, steinigen Pfaden überwinden – und das in einer Höhe von 2600 bis 4000 m über dem Meeresspiegel. Die 2 - 4 Stunden, die man brauchte, um zu einer Ansammlung von Ruinen zu gelangen, ließen einem nur wenig Zeit zum Fotografieren, Kartieren, Dokumentieren und Sammeln von Funden – Aufgaben, die an jeder Fundstelle erledigt werden mußten. Da nicht einmal die Cotahuasinos selbst es wagen, nach Einbruch der Dunkelheit auf den tückischen Bergpfaden unterwegs zu sein, blieben uns meist nur ein paar Stunden an einer Fundstelle, bevor wir umkehren mußten.

Ein anderes Problem, auf das man sehr bald stößt, ist, daß man für die archäologische Feldforschung von jeder Gemeinde, auf deren Gebiet man tätig ist, eine Genehmigung benötigt. Wir hatten für unsere Arbeiten Genehmigungen des Staates Peru und des Bezirkes Arequipa. In den größeren Städten des Tales waren diese Genehmigungen vollkommend ausreichend. In den kleineren, stärker traditionell organisierten Orten hatten wir jedoch Probleme, die Bevölkerung von der Rechtmäßigkeit unserer Forschungen zu überzeugen. Zugegebenerweise waren wir auch ein seltsamer Haufen. Ein Papier vor uns schwenkend marschierten wir in ein Dorf, das nur sehr selten Kontakt mit Fremden hatte, und versuchten ihnen klar zu machen, daß wir sehr interessiert an den alten Ruinen oberhalb ihrer Felder wären. Schnell kamen Gerüchte auf: jemand hätte uns gesehen, wie wir Behälter mit Gold und Silber aus frisch gegrabenen Löchern holten, andere behaupteten wir wären westliche Ingenieure, die einen Platz für einen Bewässerungskanal suchten; solche Gerüchte verbreiteten sich schnell im ganzen Tal. In jedem Dorf mussten wir diese Gerüchte mühevoll entkräften und den wahren Grund unseres Besuches erklären. In den meisten Fällen konnten wir die Bewohner überzeugen, wobei wir uns häufig mit ihnen darüber unterhielten, wie man die reichen archäologischen Hinterlassenschaften des Tales für den Tourismus nutzen könnte.

Wie viele andere der Täler im Hochland von Peru beherbergt das Cotahuasi-Tal eine Vielzahl an beeindruckenden archäologischen Plätzen, die Zeugnis von der jahrtausendealten kulturellen Entwicklung ablegen. Mit auch heute noch bis zu drei Meter hoch aufragenden Mauern sind die Ruinen von Maulkallacta und Collota die stillen Zeugen der Expansion des Inka- und Wari-Reiches in diese heute isolierte Region. Die schönen Obsidianspitzen, die in Purkaya gefunden wurden, sind ein Zeugnis der Fertigkeiten der Jäger und Sammler, die dieses Tal zuerst besiedelten. Das Tal und seine heutigen Bewohner geben jedoch die prähistorischen Geheimnisse dieser Region nicht einfach preis. Vulkanische Aktivitäten, geologische Verschiebungen und Vergletscherung machen Forschungen in diesem Tal körperlich anstrengend. Das Erbe der europäischen Kolonisierung und die Unterentwicklung haben die Bewohner gegenüber Fremden mißtrauisch gemacht. Willy, ich und der Rest der Mannschaft vom Proyecto Cotahuasi, versuchen immer wieder die Barrieren körperlicher Anstrengung und die Verständnisschwierigkeiten zu überwinden, denn die Geschichten archäologischer Stätten wie Arcopunko sollten erzählt werden.