Archäologen scannen prähistorische Steinbilder im Valcamonica

Im norditalienischen Valcamonica haben Menschen prähistorischer Kulturen Bilder, sogenannte Pitoti, in den Fels gemeißelt. Die meist Jahrtausende alten Darstellungen von Menschen, Gegenständen und abstrakten Mustern sind jedoch nur schwer zugänglich. Das EU-Projekt "3D-Pitoti" erfasst den Stand der mehr als 50.000 Gravuren und macht diese mit moderner Medientechnik für ein breites Publikum zugänglich. Der Einsatz von 3D-Kameras, Drohnen und neuen Analysemethoden erleichtert zudem Archäologen ihre Arbeit.

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Beispiel eines Pitoti
Beispiel eines Pitoti aus dem Valcamonica in der Lombardei (FH St. Pölten / Markus Seidl)

Jäger und Sammler, Kämpfer und Reiter, Häuser, Tiere, Schriften in etruskischem Alphabet und abstrakte Symbole: Tausende in Stein gemeißelte Darstellungen überziehen die grauen Felsen des Tales Valcamonica in der Lombardei. In die Flanken des Tales sind in der Zeit zwischen 4000 v. Chr. und dem Mittelalter mehr als 50.000 Petroglyphen in Stein geschlagen worden. Sie werden Pitoti genannt, was im lokalen Dialekt "kleine Puppen" bedeutet. Sie zählen zum UNESCO-Weltkulturerbe und zeigen Jagd-, Duell- und Tanzszenen, sowie Europas erste Landkarte.

Die Erforschung dieser wertvollen Artefakte gestaltet sich aufgrund schwer zugänglicher Hanglagen oft mühevoll. Durch das hohe Interesse an diesen Kunstwerken sind sie einem ständigen Besucherstrom ausgesetzt, der die anfälligen Ornamente gefährdet und zerstört. Archäologen und Medientechniker aus England, Österreich, Deutschland und Italien arbeiten im Projekt "3D Pitoti – 3D acquisition, processing and presentation of prehistoric European rock-art" daran, die wertvollen Beispiele frühester Kunst dauerhaft zu erhalten.

Durch den Einsatz neuester Technik digitalisieren Medientechniker im Projekt die Steinbilder. Dadurch können die Archäologen die Pitoti im Labor wetterunabhängig umfassend untersuchen, ohne vor Ort sein zu müssen und die Steine weiterem Abrieb auszusetzen.

"Die traditionelle Methode des Dokumentierens ist sehr zeitaufwendig: Wir müssen die Figuren per Hand auf Plastikfolien malen. Da sich die Folien mit der Temperatur verändern, verzerrt das außerdem nachträglich die Zeichnungen. Die neue Technik liefert zudem weitere Details. Wir könnten so Antworten auf offene Fragen finden, wo wir mit den alten Methoden an die Grenzen gestoßen sind", sagt Alberto Marretta, Archäologe und Direktor am Parco Archeologico Comunale di Seradina-Bedolina in Capo di Ponte im Valcamonica-Tal. Das Nutzen von Medientechnik bietet laut Marretta nicht nur praktische Vorteile: "Wir sehen, wie wir menschliches Wissen und maschinelle Lernprozesse verbinden können und die neue Welt der Bilder liefert uns neue Ansätze zum Verstehen der Felsbilder", erklärt Marretta.

Im Rahmen des Projekts wird erstmals die Dreidimensionalität der Petroglyphen untersucht und aufgezeichnet. In diesem Projekt arbeitet die FH St. Pölten unter der Leitung der Universität Nottingham und mit Beteiligung der Universität Cambridge an der Entwicklung intelligenter Datenverarbeitungstechnologien, um inhärente Strukturen in den 3D-Daten der aufgezeichneten Petroglyphen zu erkennen und nutzbar zu machen.

Aus der detaillierten Information zu den Spuren im Fels wollen die Forscher nach Auswertung der Ergebnisse Rückschlüsse auf die Produktion der Bilder schließen: etwa ob das Werkzeug aus Metall oder Stein war und auf welche Art gehämmert und gepeckt wurde. Über die Struktur der Schläge könnten sich bestimmte Stile klassifizieren und eventuell sogar einzelne KünstlerInnen identifizieren lassen.

Diese Analyse und Interpretation erfolgt durch am Projekt beteiligte Archäologen. Mitarbeiter des Instituts für Creative\Media/Technologies (IC\M/T) der FH St. Pölten unterstützen diese dabei, indem sie die Daten und Muster zu den Figuren und Bearbeitungsspuren analysieren und klassifizieren. Im Zuge des Projekts wurde eine Datenbank einwickelt, auf deren Basis noch nicht erfasste Pitoti automatisch eingeordnet werden können. Die Forscher der FH St. Pölten arbeiten auch an einer Methode zum automatischen Klassifizieren der Pitoti. Die Bilder werden dazu in ein Schema aus Strichen und Knotenpunkten umgewandelt. Computer erkennen dann anhand des Schemas verbunden mit Eigenschaften der Kontur der Gravuren neue Bilder und können sie einordnen.

"Wir haben gemeinsam mit den Archäologinnen und Archäologen Machine-Learning-Verfahren entwickelt und getestet, mit denen wir jede neue 3D-Aufzeichnung eines Petroglyphen analysieren und klassifizieren können: Etwa ob diese eine anthropomorphe Gestalt zeigt, ein abstraktes Bild, die Camunische Rose, die sich auch im Wappen der Lombardei findet, oder eines von vielen anderen Motiven", sagt Markus Seidl, stellvertretender Leiter des Instituts für Creative\Media/Technologies (IC\M/T) und Projektleiter für "3D Pitoti" in St. Pölten.

Wesentlich ist das Aufzeigen von Petroglyphen, die in Bezug auf Form, Pecking Stil und/oder Größe den bereits aufgefunden ähneln. "Bei der Vielzahl von mindestens 50.000 Petroglyphen ist das eine unverzichtbare Unterstützung der Archäologinnen und Archäologen und eine Bereicherung des Erlebnisses von Betrachterinnen und Betrachtern der Pitoti", so Seidl. Circa 2.500 Pitoti wurden zunächst händisch erfasst und kategorisiert. Sie lieferten die Typologie und die Trainingsdaten, anhand derer nun alle weiteren Steinbilder automatisch klassifiziert werden können.

Durch die Digitalisierung werden die Pitoti auch der interessierten Öffentlichkeit, bspw. BesucherInnen in Ausstellungen, als Film, Animation oder Installation dauerhaft zugänglich gemacht. Die Felsenkunst kann in ansprechender, interaktiver Art und Weise einem breiten Publikum vermittelt werden: Auf Touchscreens, in Multimedia-Installationen oder als dreidimensionale Strukturen erfahren Menschen die Vielfalt der Felsbilder. Die Ausstellung wurde unter anderem bereits im Museum of Archaeology and Anthropology in Cambridge gezeigt.

Archäologin bei der Erfassung
Archäologin bei der Erfassung (Alberto Marretta / Parco Archeologico Comunale di Seradina Bedolina bzw. Alberto Marretta)