12.000 Jahre Besiedlungsgeschichte im Lübecker Süden

Bei Ausgrabungen im Bereich des geplanten Gewerbeparks Semiramis im Süden der Hansestadt Lübeck wurde ein großes Siedlungsareal mit zahlreichen Befunden aus verschiedenen archäologischen Epochen gefunden. Die kulturhistorische Relevanz der Funde, die eine Besiedlung vom Ende der Eiszeit - mit Unterbrechungen - bis zur slawischen Zeit belegen, wird von den Archäologinnen und Archäologen als hoch eingeschätzt, da Siedlungsbefunde der Vor- und Frühgeschichte im norddeutschen Raum gegenüber Bestattungsplätzen nach wie vor unterrepräsentiert sind.

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Grabungsflächen
Luftaufnahme der archäologischen Grabungen im künftigen Gewerbegebiet Semiramis. Foto: © HL

Im Lübecker Süden entlang der Kronsforder Landstraße zwischen der Autobahn A20 und dem Wertstoffhof Niemark entsteht der neue Gewerbepark Semiramis auf einer 35 Hektar großen Nettofläche, 44 Hektar brutto überplant. Im Zuge der Planungen stellte die der Bereich Archäologie und Denkmalpflege der Hansestadt Lübeck 2018 fest, dass im überplanten Gebiet mit archäologischen Hinterlassenschaften von erheblichem Umfang zu rechnen sei. Senatorin Monika Frank stellte am Freitag gemeinsam mit den Archäologinnen und Archäologen die bisher gewonnen Erkenntnisse vor.

»Die bisherigen Ergebnisse belegen die Anwesenheit von Menschen seit spätestens dem Ende der Eiszeit vor 12.000 Jahren,« erläutert Dr. Ingrid Sudhoff, Sachgebietsleiterin für das Lübecker Landgebiet bei der Abteilung Archäologie. »Auf den bisher 38 Hektar voruntersuchter Fläche verdichten sich die Hinweise auf eine ausgedehnte Siedlungstätigkeit vom Neolithikum, der Jungsteinzeit ab etwa 4.100 vor Christus, bis mindestens in die römische Kaiserzeit, der Völkerwanderungszeit etwa in das 5. Jahrhundert nach Christus. Einzelne Funde datieren ins frühe Mittelalter, der sächsischen, slawischen Zeit. Außerdem wurde eine intensive landwirtschaftliche Nutzung anhand von Wölbäckern und Fäkalienackern während des Mittelalters und der frühen Neuzeit nachgewiesen,« ergänzt Leif Schlisio, wissenschaftlicher Leiter der diesjährigen Ausgrabung. In den laufenden Untersuchungen bestätige sich das in den Voruntersuchungen gewonnene Bild. »Anhand zahlreicher Gruben und Pfostengruben sind bereits jetzt die Grundrisse mehrerer kleiner und großer Gebäude zu erkennen. Auch eine Ofenanlage konnte identifiziert werden. Ob es sich dabei um einen Backofen oder einen Keramikbrennofen handelt, muss noch geklärt werden,« berichtet Leif Schlisio.

»Die wissenschaftliche Relevanz und kulturhistorische Bedeutung des Gesamtareals ist nach derzeitigem Kenntnisstand sehr hoch einzuschätzen, da Siedlungsbefunde vor- bis frühgeschichtlicher Kulturgruppen des norddeutschen Raumes nach wie vor gegenüber Bestattungsplätzen unterrepräsentiert sind. Auch die weite Ausdehnung der Siedlungsfundplätze ist ungewöhnlich und lässt ein weiträumiges Siedlungsareal von überregionaler Bedeutung vermuten. Für Schleswig-Holstein und insbesondere für Lübeck fehlen systematische Untersuchungen zu vorgeschichtlichen Siedlungskammern bisher weitestgehend«, betont Kultursenatorin Monika Frank.

»Aufgrund der Größe des Areals und der Fülle an Befunden sind umfangreiche Ausgrabungen notwendig, wobei die Anwendung modernster Untersuchungsmethoden und eine engmaschige naturwissenschaftliche Begleitung hier die seltene Chance einer Rekonstruktion der Lebenswelten unserer Vorfahren über mehrere Jahrtausende ermöglichen«, ergänzt Dr. Ingrid Sudhoff.

Archäologische Voruntersuchungen starteten 2018

Um Umfang und Qualität der archäologischen Hinterlassenschaften zu ergründen, wurden verschiedene Maßnahmen durchgeführt: In 2018 Oberflächenbegehungen, 2019 geomagnetische Untersuchungen, zwischen Mitte August und Mitte Dezember 2021 fanden dann erste Voruntersuchungen in Suchschnitten statt. Zunächst durch ein kleines Team, bestehend aus einer Archäologin, einem Grabungstechniker und zwei Grabungsarbeitern. Seit März 2022 erfolgten dann erste Ausgrabungen nach vorgegebenem Bauzeitenplan mit einem großen Team, bestehend aus drei Archäolog:innen, zwei Grabungstechniker:innen und sechs Grabungsarbeiter:innen. Weitere Unterstützung leisteten und leisten Teilnehmer:innen des Freiwilligen Sozialen Jahres der Jugendbauhütte Lübeck.

Siedlungsreste aus unterschiedlichen Epochen

Auf über 20 Hektar der überplanten Fläche sind Siedlungsreste aus der Jungsteinzeit, der Bronzezeit, der vorrömischen Eisenzeit und der römischen Kaiserzeit zu erwarten. Dabei kann es sich um kleinere Dörfer oder auch Einzelhofanlagen gehandelt haben, die mehrfach verlegt wurden. Beides ist für diese Perioden belegt. Außer Spuren vorgeschichtlicher Häuser aus unterschiedlichen Perioden wurden schon in den Voruntersuchungen großflächige Reste von Kulturschichten bzw. Kulturhorizonten angetroffen. Dies ist auf vorgeschichtlichen Fundplätzen eine Seltenheit. Mindestens ein zusammenhängender Siedlungsbereich aus dem Neolithikum sowie mehrere Konzentrationen von Siedlungsspuren aus der vorrömischen Eisenzeit und der römischen Kaiserzeit wurden festgestellt. Im Nordosten finden sich außerdem auch bronzezeitliche Siedlungsspuren. Weiterhin gibt es an mehreren Stellen erste Hinweise auf Eisenverhüttung, vor allem Rennfeueröfen, was bisher für Lübeck bisher nur einmal in Wulfsdorf für die jüngere vorrömische Eisenzeit/römische Kaiserzeit belegt ist. An einer Stelle deuten Gussreste von Bronze außerdem eine Bronzewerkstatt an.

Die schon während der Voruntersuchungen erstaunlich hohe Anzahl an Funden in Form von Keramikfragmenten, Feuersteinartefakten und Eisenschlacke wird ergänzt durch besondere Metallfunde, die der Begleitung durch zertifizierte Detektorgänger zu verdanken ist: mindestens eine identifizierte römische Münze von Kaiser Domitian, 85 nach Christus, mindestens eine Fibel der römischen Kaiserzeit, eine Gürtelschnalle aus der römischen Kaiserzeit bis frühes Mittelalter, Bronzenadeln mit Pinienzapfen aus der römischen Kaiserzeit/provinzialrömisch, sowie eine eiserne Lanzenspitze, wahrscheinlich sächsisch aus dem frühen Mittelalter. Aus diesem Fundspektrum ist außerdem eine Papstbulle, eine Urkunde aus dem 13. Jahrhundert zu erwähnen, die zwar für die historische Einordnung des Fundplatzes nicht relevant, als Fundobjekt an sich aber umso bedeutsamer ist.