Der Baubeginn des Kanals konnte dadurch um mehrere Monate zurückdatiert werden. Die ältesten bislang bekannten Teile des Bauwerks wurden im Herbst 793 errichtet. Schriftquellen berichten, dass Karl der Große sich in dieser Zeit selbst an der Baustelle aufhielt. Neue Datierungen von Bauhölzern einer 2016 durchgeführten Ausgrabung belegen erstmals, dass die Bauarbeiten bereits im Winterhalbjahr 792/793 begonnen wurden. Karl der Große kam also nicht zum ersten Spatenstich, sondern besuchte eine bereits weit fortgeschrittene Baustelle. Die Neudatierung beantwortet die seit über 100 Jahren kontrovers diskutierte Frage nach dem Baubeginn und wirft ein völlig neues Licht auf den historischen Kontext des Bauvorhabens.
Die Forschungen sind Teil des Schwerpunktprogramms "Häfen von der römischen Kaiserzeit bis zum Mittelalter" der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Seit 2012 arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Jena, Leipzig und Kiel, des Leibniz-Instituts für Photonische Technologien Jena sowie des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege gemeinsam an diesem Projekt.
Der Karlsgraben ist das bedeutendste und ambitionierteste Infrastrukturprojekt des frühen Mittelalters in Zentraleuropa. Bei den heutigen Orten Treuchtlingen und Weißenburg (Bayern) wollte Karl der Große im späten 8. Jahrhundert mit Hilfe eines Kanals einen durchgehenden Schifffahrtsweg zwischen Rhein und Donau schaffen.
Die genaue Datierung dieses Bauwerks war lange umstritten. Die sogenannten Reichsannalen – ein Jahrbuch wichtiger Ereignisse im Karolingerreich – berichten, dass Karl der Große im Herbst 793 die Baustelle des Karlsgrabens besucht hat. Andere zeitgenössische Quellen wie die sogenannten Alemannischen Annalen schildern, dass der Bau bereits 792 durch Karl den Großen angeordnet wurde. Daraus erwuchs eine lange Forschungsdiskussion, wann und unter welchen politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen der Baubeginn erfolgte und wie lange der Bau gedauert hat.
Bereits 2013 gelang es durch Ausgrabungen und Holzaltersbestimmungen, einen Bauabschnitt im Mittelteil des Kanals in den Spätsommer/Herbst 793 zu datieren. Dort wurde gearbeitet, als Karl der Große wie in den Schriftquellen geschildert die Baustelle besuchte. Im Sommer 2016 wurden nach vielfältigen Voruntersuchungen der beteiligten Fachbereiche im nördlichsten bekannten Teil des Kanals neue Ausgrabungen durchgeführt. Dabei gelang es, zahlreiche hervorragend erhaltene Bauhölzer der Kanalkonstruktion zu bergen.
Nun liegen nach monatelangen Analysen neue und spektakuläre Ergebnisse zur Datierung dieses Bauabschnittes vor. Insgesamt konnten mehr als zwei Dutzend Hölzer anhand ihrer Jahrringfolgen jahrgenau oder sogar jahreszeitengenau datiert werden. Die jüngsten Hölzer des 2016 untersuchten Bauabschnittes datieren in den Frühsommer (wohl Mai) 793 und damit mehrere Monate früher als die 2013 untersuchten Hölzer. Die im Frühsommer 793 gefällten Hölzer wurden frisch und ohne längere Lagerung verbaut. Die Aushubarbeiten in diesem Bauabschnitt müssen also im Mai 793 abgeschlossen gewesen sein. Etwa ein Drittel der 2016 geborgenen Hölzer datierte jedoch früher. Sie bergen die eigentliche Sensation der Altersbestimmungen, da sie bereits im Winterhalbjahr 792/793 gefällt wurden, bevor im April/Mai 793 die Vegetationsperiode und die neue Jahrringbildung eingesetzt hat.
Dadurch ist belegt, dass die Bauarbeiten am Karlsgraben mehrere Monate früher begonnen haben als bislang bekannt. Die Schilderung in den Schriftquellen, dass der Befehl zum Bau des Kanals bereits 792 erfolgt ist, gewinnt dadurch deutlich an Wahrscheinlichkeit. Erstmals können nun die historisch-politischen Rahmenbedingungen der Entscheidung zum Bau des Kanals genauer gefasst werden. Durch die neuen Datierungen wird außerdem deutlich, dass Karl der Große im Spätsommer/Herbst 793 eine bereits mehrere Monate zuvor begonnene Baustelle besucht hat und keineswegs zum "ersten Spatenstich" angereist ist. "Die neuen Datierungen sind nicht nur in ihrer Präzision außergewöhnlich! Dadurch erschließen sich völlig neue Aspekte der historischen Einordnung und technischen Umsetzung des Bauvorhabens.", erklärte Dr. Lukas Werther von der Universität Jena am Tag der Präsentation der Forschunsgergebnisse und der Geoarchäologe Prof. Dr. Christoph Zielhofer von der Universität Leipzig ergänzte: "Überraschend ist, dass die ältesten Hölzer am nördlichen Ende des bekannten Trassenverlaufs des Kanals liegen. Unter Umständen ist dies ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Bauarbeiten hier begonnen wurden. Eine Überraschung, denn dieser Standort ist an der Geländeoberkante kaum erkennbar und völlig unscheinbar."
In den nächsten Monaten werden die neuen Datierungen detailliert ausgewertet und mit zahlreichen weiteren Ergebnissen der interdisziplinären Forschergruppe zusammengeführt. Durch die präzisen und unterschiedlichen Datierungen erwarten die Forschenden erstmals Hinweise zur Baurichtung einzelner Kanalabschnitte und zu Organisationsdetails der Großbaustelle. Auch zur Frage der Fertigstellung oder Nichtfertigstellung einzelner Bauabschnitte sind neue Ergebnisse zu erwarten.