Wer waren die Luwier?

veröffentlicht am
GriechenlandTürkeiFrühe Hochkulturen im Vorderen OrientBronzezeit

Warum erscheint Troja wie ein isolierter Außenposten ganz oben im Nordosten der Ägäis, wenn sich doch damals das kulturelle Geschehen viel weiter im Süden abspielte, nämlich im minoischen Kreta und innerhalb der mykenischen Kultur am südlichsten Ende des Balkans? Wen zählten die Trojaner eigentlich zu ihren Nachbarn? Wie muss man sich die Besiedlung auf der anatolischen Seite der Ägäis um 1200 vor Christus vorstellen? Gab es dort eine eigenständige Kultur oder handelte es sich in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht sozusagen um Brachland? Welche Voraussetzungen müssen überhaupt erfüllt sein, um von einer eigenständigen Kultur zu sprechen, und unter welchen Umständen darf eine solche auch auf einer Karte eingetragen werden? Fragen dieser Art wirft eine soeben veröffentlichte Studie über das mittel- und spätbronzezeitliche Westanatolien auf.

Was zählt zur Ägäischen Frühgeschichte?

Wer sich für die Ägäische Bronzezeit interessiert, würde vermutlich der Definition einiger Archäologen zustimmen, dass "das, was die ägäische Vorgeschichte umfasst, vielleicht weitgehend unproblematisch ist: die prähistorische Archäologie des griechischen Festlandes, der ägäischen Inseln und Kretas." Allerdings lässt diese Definition zwei Drittel der ägäischen Küsten unberücksichtigt, nämlich das gesamte Ost- und Nordufer. Hier zeichnet sich also Handlungsbedarf ab.

Professor Tjeerd H. van Andel, Ozeanograf und Geoarchäologe an der Stanford-Universität, erklärte seinen Doktoranden einmal: Wenn sie je eine neue, weitreichende Theorie vorstellen wollten, täten sie dies am besten, bevor allzu viele Fakten vorlägen, weil sie dann nämlich einfacher und überzeugender sein werde. "Nicht zu viele Fakten" scheint eine treffende Charakterisierung des heutigen Wissens über die Mittel- und Spätbronzezeit Westkleinasiens zu sein. Es ist insofern nicht überraschend, dass die These, wonach dieser weiße Fleck auf der Landkarte der spätbronzezeitlichen Mächte mit der bisher noch nicht vollständig erforschten luwischen Kultur zu füllen sei, vor einigen Jahren Anklang fand. Das PDF des Buches "Die luwische Kultur" wird bis heute rege von academia.edu heruntergeladen.

Die Aussagen von 2016 stützten sich auf vorläufige Daten, die ein internationales Team aus Archäologen, Geoarchäologen und GIS-Experten gesammelt hatte. Ziel war, die bisher in der Westtürkei durchgeführten archäologischen Ausgrabungen und Oberflächenuntersuchungen auszuwerten, soweit sie Siedlungen aus dem zweiten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung erfassten. Die Arbeiten an diesem Projekt hatten bereits 2010 begonnen, und die jetzt erschienene Publikation stellt den Abschlussbericht dar.

Die Auswertung berücksichtigt 33 Ausgrabungen und 30 Surveys; aus der Meta-Analyse resultierte ein Katalog mit 477 großen Siedlungsplätzen, jeder mit einem Durchmesser von über hundert Metern, die während des gesamten zweiten Jahrtausends vor Christus bewohnt waren. Fast alle der ausgewerteten Geländearbeiten wurden von türkischen Archäologen durchgeführt, folglich erschienen die Berichte auch meist in türkischer Sprache. Jede der untersuchten Siedlungen verfügt über einen lokalen Namen und ist mit ihren geografischen Koordinaten erfasst; von jeder wird mittel- und spätbronzezeitliche Keramik in der archäologischen Fachliteratur erwähnt; jede ist auch auf einer faltbaren Karte eingezeichnet, die der neuen Publikation beiliegt; und für jede Fundstätte wurden außerdem 30 physiogeografische Parameter bestimmt, die mit Hilfe von GIS ausgewertet werden konnten.

Das Vorhandensein der luwischen Kultur steht außer Frage

Die nun veröffentlichten Ergebnisse bestätigen in vollem Umfang die Existenz einer eigenständigen luwischen Kultur zwischen dem mykenischen Griechenland im Westen und dem hethitischen Königreich im Osten. Diese luwische Kultur erstreckte sich dabei über ein größeres Territorium und bestand auch deutlich länger als die Kulturen ihrer gut untersuchten Nachbarn, der Minoer, Mykener und Hethiter. Eines der damals potenziell identitätsstiftenden Merkmale war die luwische Sprache, die während des zweiten Jahrtausends vor Christus im größten Teil des westlichen und südlichen Kleinasiens gesprochen wurde. Darüber hinaus besaßen die Luwier eine eigene Hieroglyphenschrift, die bereits 500 Jahre lang gebräuchlich war, bevor die mykenischen Griechen – nur einen Steinwurf weit entfernt – erstmals Schriftkenntnisse erwarben. Auch nach dem Untergang der bronzezeitlichen Kulturen, um ca. 1200 vor Christus, blieb die luwische Hieroglyphenschrift im Gebrauch, und zwar während des gesamten dunklen Zeitalters bis ca. 700 vor Christus. In diesen Jahrhunderten war die Schriftkenntnis in Griechenland komplett verloren gegangen. Bereits heute sind mehr luwische Siedlungsplätze bekannt als von den seit langem erforschten Nachbarregionen zusammen. Ein luwischer König korrespondierte mit dem ägyptischen Pharao, was, soweit wir wissen, für keinen mykenischen König gilt. Die Anerkennung einer eigenständigen luwischen Kultur lässt auch den späteren Aufstieg der Lykier, Lydier und Karer im westlichen Kleinasien verständlich werden, deren Sprachen sich als luwische Dialekte entpuppen. Die luwische Kultur der Spätbronzezeit bildete offensichtlich das Substrat, auf dem die späteren Kulturen der Frühen Eisenzeit gedeihen konnten.

Neue Fragen werden aufgeworfen

Wenn all dies so ist, tauchen neue Fragen auf. Wer waren denn diese Luwier? Wie unterschied sich ihre Kultur von denen ihrer Nachbarn? Gab es eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl? Vor allem aber: Warum hat es denn so lange gedauert, bis die luwische Kultur erkannt wurde?

Dank der vielen, zum großen Teil bis heute außerordentlich gut erhaltenen Siedlungsplätze lässt sich das Wirtschaftssystem der damaligen Zeit rekonstruieren. Die Menschen lebten dicht gedrängt in Ortschaften, die in der Regel mehrere Kilometer voneinander entfernt lagen, so dass die Landschaft dazwischen unbesiedelt blieb. Für die Standorte der Siedlungen bevorzugten die Luwier die Ränder der fruchtbaren Talauen, die im westlichen Kleinasien viel größer sind als in Griechenland. Die Landwirte wohnten also direkt neben ihrem Ackerland, an Orten, wo es reichlich Süßwasser gab. Der Einbezug des mutmaßlichen Verkehrsnetzes in die GIS-Analyse zeigt, dass gut die Hälfte der Siedlungen weniger als vier Kilometer von einer Durchgangsstraße entfernt lagen.

Nur an wenigen strategisch wichtigen Stellen ließen die Machthaber auf Hügeln Befestigungen mit mächtigen Schutzmauern errichten. Ob es sich dabei um Kasernen oder Zufluchtsorte für die Bevölkerung handelte, lässt sich noch nicht sagen. Bis heute fehlt eine Hauptstadt mit dem Verwaltungssitz eines lokalen Herrschers, weshalb auch noch kein Archiv gefunden wurde. Allerdings gab es bisher auch keine Ausgrabungen im großen Stil.

Gut fünfzig Prozent des Gebiets westlich einer gedachten Nord-Süd-Linie von Eskişehir nach Antalya ist im Rahmen von archäologischen Oberflächenuntersuchungen in den letzten Jahrzehnten systematisch erfasst worden. Ob die noch nicht abgesuchten Gebiete ebenso dicht besiedelt waren, lässt sich nicht sagen, da es damals auch ausgedehnte Wälder gab. Die in der Analyse berücksichtigten Siedlungsplätze waren alle mindestens tausend Jahre, manche sogar fünftausend Jahre lang bewohnt. Das westliche Kleinasien entspricht damit dem, was Fernand Braudel als longue durée bezeichnete, war also einer möglicherweise unauffälligen, aber langanhaltenden Entwicklung unterworfen. Das Wirtschaftssystem war zwar vielgestaltig, aber trotz seiner Vielfalt auch außergewöhnlich langlebig. Neben Subsistenzlandwirtschaft produzierten die Menschen meist ein oder zwei Waren im Überschuss, oft entweder Erze, Stoffe oder Töpferwaren. Karawanen brachten diese Güter zu einem zentralen Ort, der häufig an der Küste lag, von wo die Produkte über weite Strecken verschifft werden konnten.

Zwischen den Knotenpunkten, die stets von besonders günstigen Naturhäfen profitierten, säumten Fischerdörfer die Küste. Eine dritte Kategorie von Küstenorten waren Anlaufhäfen, die Fremde vorzugsweise an vom Landesinneren aus schwer zugänglichen Buchten unterhielten. Die mykenischen Griechen besaßen beispielsweise einen solchen Hafen in Müsgebi, in der Nähe des heutigen Bodrum. Diese Anlaufstationen waren den Einheimischen natürlich bekannt und wurden geduldet. Zum einen hatten die Fremden von dort aus keinen Zugang zu den natürlichen Ressourcen im Landesinneren, zum anderen besaßen die Luwier vielleicht selbst solche Schutzhäfen anderswo im östlichen Mittelmeerraum.

Rivalen und Verbündete

Politisch bildeten die luwischen Länder einen Flickenteppich aus Staaten und Kleinkönigreichen, die zeitweise miteinander konkurrierten, aber auch immer wieder, vor allem zu militärischen Zwecken, Bündnisse eingingen. Troja fungierte als Grenzstadt zu Thrakien, dessen Kultur sich deutlich von der luwischen unterschied. Im dreizehnten Jahrhundert vor Christus entwickelte sich Troja zu einem Knotenpunkt für den Fernhandel, insbesondere mit Zypern und Syrien.

Ein charakteristisches Merkmal der luwischen Krieger scheinen Federkronen gewesen zu sein. Grimmig aussehende Angreifer mit solchen auffälligen Kopfbedeckungen tauchen auf bemalten Gefäßen an luwischen Siedlungsplätzen auf; sie finden sich aber auch auf der Rückseite der berühmten mykenischen Kriegervase, die offenbar die Feinde der Griechen im Trojanischen Krieg zeigt. In den bedeutenden Seevölker-Inschriften am Totentempel von Ramses III. sind Federkronen das auffälligste Merkmal der angreifenden Krieger. Dies mag ein Hinweis darauf sein, dass die Mykener im Trojanischen Krieg und die Ägypter bei den Angriffen der Seevölker denselben Feind hatten: nämlich die Luwier aus dem westlichen Kleinasien.

Unterlassungen in der Forschung

Warum ist diese luwische Kultur nicht schon viel früher als solche beschrieben worden, wenn sie doch ein so großes Gebiet umfasste und so lange Bestand hatte? Die Antwort auf diese Frage dürfte in den politischen Interessen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts liegen. Arthur Evans, der Ausgräber von Knossos, etablierte in den 1920er Jahren mit seiner Buchreihe "The Palace of Minos at Knossos" das theoretische Fundament für die Ägäische Bronzezeit. Darin erfasste er allerdings nur Kulturen, die sich auf europäischem Territorium befanden, denn zwischen Griechenland und dem damals kollabierenden Osmanischen Reich herrschte gerade Krieg. Evans war nicht daran gelegen, das Forschungsinteresse auf Kulturen in einer Region zu richten, die er für barbarisch hielt. Troja mag zwar berühmter sein als jede andere archäologische Fundstätte der Welt, aber der Ort befindet sich nun einmal auf türkischem Boden. Evans hingegen wollte unbedingt Kreta als Wiege der europäischen Kultur und als Vorläufer der modernen westlichen Gesellschaft etablieren; das hatte er bereits entschieden, bevor er seine Ausgrabungen auf Kreta überhaupt begann. Der moderne Mythos von den Ursprüngen einer europäischen Kultur in der bronzezeitlichen Ägäis – den Evans komplett erfand – war nur denkbar, solange jeglicher östliche Einfluss heruntergespielt wurde. Dieser Denkweise stimmten offensichtlich die meisten Gelehrten zu, weil sie letztlich den europäischen nationalistischen und kolonialistischen Zielen förderlich war.

Bedauerlicherweise wurden die von Evans etablierten Denkmuster und die damit verbundene Rhetorik nie gänzlich revidiert. Was das zweite Jahrtausend vor Christus betrifft, so beschränkte sich das Interesse der europäischen Wissenschaftler im Großen und Ganzen stets auf Kreta und das südliche griechische Festland, während die Beziehungen zu Anatolien weiterhin vernachlässigt wurden. Angesichts der Unterlassungen früherer Generationen von Forschern bietet die inzwischen erkannte luwische Kultur nun willkommene Chancen für die Forschung von heute und morgen.

Übrigens ging der Rat von Professor van Andel noch weiter. Er schloss: "Und wenn man eine Theorie einführen will, obwohl es bereits viele Fakten gibt, sollte man sich immer darüber im Klaren sein, dass nicht alle davon wirklich Fakten sind." Heute würden Unternehmensberater und Psychologen den Ansatz von Arthur Evans vielleicht als Pippi-Langstrumpf-Prinzip, kurz PLP, einordnen. Der Begriff leitet sich vom Titellied der Fernsehserie ab: "Ich mach’ mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt!"

Wissenschaftliche Veröffentlichung

Eberhard Zangger, Alper Aşınmaz und Serdal Mutlu (2022): “Middle and Late Bronze Age Western Asia Minor: A Status Report.” In: The Political Geography of Western Anatolia in the Late Bronze Age, herausgegeben von Ivo Hajnal, Eberhard Zangger und Jorrit Kelder,
Archaeolingua Series Minor 45, 39–180. Archaeolingua, Budapest. ISBN 978-615-5766-54-1
https://luwianstudies.academia.edu/EZangger

Dieses Projekt wurde durch Luwian Studies und ein einjähriges Forschungsstipendium der Universität Zürich ermöglicht.