Der völkische Germanenmythos

Eine Konsequenz deutscher Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts

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Archäologie & GesellschaftWissenschaftsgeschichteDeutschlandUr- & Frühgeschichte

[1] Im historischen Selbstverständnis der Deutschen gehört die Vorstellung von einer prägenden Rolle der germanischen Vorfahren traditionell in den Katalog der populären Nationalstereotypen.[2] In der sich zwischen wilhelminischem Kaiserreich und ‚Drittem Reich' konstituierenden völkischen Ideologie nehmen solche Positionen sogar eine herausragende Stellung ein.[3] Idealvorstellungen von der germanischen Vorzeit bilden den Fokus eines völkischen Geschichtsdenkens, das in erheblichem Maße auf der Rezeption einer politisch tendenziösen Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts beruht.

Zur näheren Erläuterung dieser These wird zunächst eine Definition des Germanenmythos vorgenommen. Anschließend werden ausgewählte Aspekte dieses Germanenmythos in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts näher vorgestellt.[4]

Neben Germanenmythos wird verschiedentlich auch von Germanenideologie gesprochen. Beide sinnverwandten Begriffe verweisen auf die Idealisierung des Germanischen in Kombination mit einer nationalen oder sogar pan-nationalen Idee, setzen aber durch ihre Bezugnahme auf den Mythos- bzw. Ideologiebegriff unterschiedliche Akzente:
Unter Ideologie wird „ein System von Ideen verstanden, das in einem allgemeinen Sinn das Politische betrifft und politische Orientierung zu vermitteln vermag, ein System, das ferner von einer gesellschaftlich relevanten Gruppe gutgeheißen und in politischer Absicht verbreitet wird".[5] Der Terminus Germanenideologie ist dieser Definition folgend als ein System von Ideen anzusehen, das den Germanenbegriff in einen politischen Kontext stellt und diesen für die politische Orientierung instrumentalisiert. Ihre gesellschaftliche Relevanz erfährt die Germanenideologie einerseits aus der Akzeptanz der Ideenproduzenten in Wissenschaft und Öffentlichkeit, andererseits durch ihre Rezeption durch Publizistik, Propaganda und Politik.

Für den Mythosbegriff existieren im Wesentlichen zwei voneinander abweichende Definitionen. Zuallererst handelt es sich um eine „Erzählung von Göttern, Heroen u. a. Gestalten und Geschehnissen aus der vorgeschichtlichen Zeit", die einer Welt- bzw. Existenzdeutung dienten. Neben diesen alten oder „echten" Mythen existieren „neue" Mythen, bei denen es sich um das „Resultat einer sich auch in der Moderne noch vollziehenden Mythisierung im Sinne einer Verklärung von Personen, Sachen, Ereignissen oder Ideen zu einem Faszinosum von bildhaftem Symbolcharakter" handelt.[6] In Anlehnung an diese allgemeine Definition der „neuen" Mythen läßt sich der Germanenmythos als Verklärung der Germanen bzw. einer Idee vom Germanischen fassen, die bereits mit der humanistischen Antikenrenaissance einsetzt und sich weitgehend abgehoben vom antiken Überlieferungskontext insbesondere vom 18. bis zum 20. Jahrhundert ausformte. Darüber hinaus vermochte der so verstandene Germanenmythos sein Zielpublikum in den Bann zu ziehen, so etwa in seiner Anwendung in Literatur, Bühnenstück und Dichtung, mittels effektvoller Präsentation archaischer und vermeintlich ‚germanischer' Lebensumstände beispielsweise in Museumsdörfern sowie durch stereotypische Illustration eines vermeintlich ‚germanischen' Erscheinungsbildes. Die Stilisierung der Germanen als blond-blauäugige Recken - ob als Heldentypus oder ‚blonde Bestie' - erfuhr hohe Popularität. Durch Zitierung der betreffenden Passagen aus Tacitus' Germania[7] fungierten sowohl die äußeren Eigenschaften der Germanen wie deren Repertoire an Tugenden und Lastern als Nationalchiffre, dem man jenseits historischer Epochen eine gleichsam zeitlose Gültigkeit unterstellte.

Das irrationale und mit bildreichen Assoziationen verbundene Moment des Germanenmythos verband sich zusammen mit weiteren rückwärtsgewandten Tendenzen, wie etwa verschiedenen Richtungen der Lebensreform, zum Substrat einer modernen Mythologie, die mit den christlichen Traditionen und Werten wie mit den Säkularisierungstendenzen der Moderne konkurrierte. Die Rückwendung zu den vitalen und vermeintlich naturnah lebenden germanischen Vorfahren bildete einen Kontrapunkt zu der von Industrialisierung und Technisierung bestimmten Gegenwart. Die postulierte ‚germanische Wiedererstehung' erstreckte sich über die Besinnung auf archaische Kulturtraditionen hinaus teils auch auf die Renaissance einer ‚arteigenen' Religion, womit ein germanisiertes Christentum oder sogar die Neubelebung heidnisch-germanischer Glaubensvorstellungen gemeint sein konnte.

Diese Mythologisierung des Germanischen bzw. der Germanen ist eminent politisch, was sich aus den genannten Kontextualisierungen, wie aus der Funktion ergibt, die politische Mythen bei der Formung und Legitimation kollektiver Identitäten einnehmen.[8] Diese Funktion bestand hier vor allem darin, vermeintliche Gegenwartsdefizite mit überzeichneten oder sogar konstruierten Vorstellungen über Abstammung und Herkunft sowie über das politisch-kulturelle Sein und Sollen zu kompensieren.

Die Begriffe Germanenideologie und Germanenmythos stehen daher in einem hierarchischen Verhältnis, wobei der erste Terminus als Oberbegriff des zweiten fungiert. Während die Germanenideologie in erster Linie auf den intentionalen Vorgang der Instrumentalisierung aus politischen Motiven bzw. für politische Zwecke abhebt, zielt der Begriff Germanenmythos zusätzlich auf die Eigendynamik des irrationalen und emotionalen Moments, dem nicht wenige seiner Vertreter und Anhänger erlagen.

Um die Genese des im nationalen und insbesondere völkischen Denken konstitutiven Germanenmythos nachzuvollziehen, ist ein weit gefaßtes Verständnis der sich erst im 19. Jahrhundert sukzessive auch als akademisches Fachgebiet etablierenden Altertumsforschung erforderlich. Zu berücksichtigen sind sowohl die mit dem Germanenthema befaßten Disziplinen wie Archäologie, Germanistik, vergleichende Sprachforschung, Geschichte und Anthropologie[9], als auch das von seiner Qualifikation her breite Spektrum der Akteure, das von seriösen Fachwissenschaftlern über Populärwissenschaftler bis hin zu fachlich dilettierenden Publizisten reicht. Dabei überschritten die vielfach disziplinübergreifend schreibenden Autoren die Grenzen ihrer Qualifikation weitaus häufiger, als dies heute üblich und möglich ist: Renommierte wissenschaftliche Vereinigungen und politische Zirkel, seriöse Periodika und politisch agitierende Kampfblätter interagierten z.T. über ein und dieselben Personen und diskreditierten auf diese Weise ihren wissenschaftlichen Anspruch oder suggerierten eine Verwissenschaftlichung politischer Tendenzen. Beispielsweise erhielten völkische Vorgeschichtspublizisten wie Ludwig Wilser (1850-1923) oder Willy Pastor (1867-1933) Gelegenheit, ihre Ansichten über das germanische Altertum etwa in den Korrespondenzblättern der renommierten „Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte" zur Diskussion zu stellen, wie auch umgekehrt etablierte Akademiker bisweilen in der dezidiert völkisch positionierten Politisch-anthropologischen Revue schrieben.[10] Auch Gustaf Kossinna (1858-1931), der um 1900 maßgebliche Begründer der prähistorischen Archäologie als akademische Disziplin, engagierte sich neben seiner wissenschaftlichen Forschungs- und Lehrtätigkeit in verschiedenen völkisch-nationalistischen Vereinigungen.[11] Für die Herausbildung, Etablierung und Popularisierung ideologischer Standpunkte sind diese Interaktionen von erheblicher Bedeutung.

Die sich unter dem Eindruck romantischer Ideen entwickelnde deutsche Altertumsforschung war während des 19. Jahrhunderts vor allem von der Motivation getragen, die konstituierenden Ursprünge der Deutschen aufzuzeigen und deren ‚nationale' Frühgeschichte in Relation zu den kultur- und weltgeschichtlichen Entwicklungen als bedeutend herauszustellen. Einen wichtigen Impuls für den Entwurf dieser nationalen Frühgeschichte lieferte die schon seit der Frühen Neuzeit intensiv betriebene Rezeption der ‚Germania' des Tacitus, die in der deutschen Geschichtsschreibung den nachhaltig prägenden Eindruck hinterlassen hatte, die Germanen seien die maßgeblichen Vorfahren der Deutschen.[12] Arminius wurde in diesem Rezeptionszusammenhang zur nationalen Identifikationsfigur, weil sich in seiner Person das nationale Selbstverständnis einer Gleichung ‚germanisch-deutsch' symbolhaft abbilden ließ.[13] Eine übergroße Zahl ‚Deutscher Geschichten' brachte dieses historische Selbstverständnis dadurch zum Ausdruck, indem die einleitenden Kapitel jene die Germanen betreffenden römischen Quellentexte rekapitulierten und zum glaubwürdigen Zeugnis der frühesten deutschen Geschichte erhoben.

Diese germanisch-deutsche Nationalidentität wurde mittels einer romantisierenden Fokussierung auf kultur- und sprachgeschichtliche Beziehungen zu Skandinavien in einem breiten Konsens nach Norden erweitert. Hierbei spielte die vor allem durch deutsche Gelehrte betriebene intensive und tendenziöse Rezeption nordischer Mythen- und Sagenstoffe eine wesentliche Rolle.[14]

Ungeachtet dieser nationalromantischen Grundannahmen entzogen sich die in immer größerer Quantität und Qualität zugänglichen archäologischen und sprachhistorischen Quellen häufig einer eindeutigen ethnischen Identifizierbarkeit.[15] Aufgrund divergierender Quelleninterpretationen war das kulturnationale Selbstverständnis von einer Reihe konkurrierender Sichtweisen und Gewichtungen durchbrochen. Daher blieb die auf einen autochthonen Nationalismus abzielende germanisch-deutsche Perspektive in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts keineswegs alternativlos.

So erschienen die Kelten vor allem in Südwestdeutschland (und teilweise auch darüber hinaus) als ein europäisches Urvolk, das, beeinflußt von mediterranen Kulturströmungen, gegenüber den Germanen zivilisatorisch weiter fortgeschritten sein sollte. Eine mit enthusiastischem Überschwang vorgetragene Keltomanie brachte die Befürworter der Gleichung ‚germanisch-deutsch' um so stärker in Verlegenheit, je häufiger die Kelten zu maßgeblichen Vorfahren der zum nationalen ‚Erbfeind' stilisierten Franzosen identifiziert wurden.[16]

Ein ähnlicher Konflikt entzündete sich an der Frage, ob, für wie lange und bis zu welcher Linie im Osten des neuzeitlichen deutschen Sprachraums einst Slawen lebten. Dieser Streit war vor allem für den dort virulenten nationalistischen Sprachen- und Volkstumskampf von Bedeutung, wurde doch von seinem Ausgang ein vermeintlich historisches Recht auf territorialen Besitz abgeleitet.[17]
Drohte die Bedeutung des germanischen Altertums vor dem Hintergrund unterstellter keltischer und slawischer Anteile an der Genese des deutschen Volkes und seiner Geschichte bereits erheblich relativiert zu werden, wiesen konträre Deutungen des römischen Einflusses auf einen weiteren, das nationale Selbstbildnis tangierenden Konflikt. Während der zum nationalen Gründungsmythos stilisierte militärische Sieg des Arminius eine rückwirkende Überlegenheit assoziieren sollte, kennzeichneten Philologen und Althistoriker, wie auch die im Zuge der Limesforschung sich etablierende römisch-germanische Archäologie den mediterranen Kultureinfluß als Boten zivilisatorischen Fortschritts.
Die Ambivalenzen, mit denen schließlich der griechischen Antike und den altorientalischen Hochkulturen begegnet wurde, betrafen vor allem die Werterelationen, in denen das germanische Altertum zu den mediterranen und vorderasiatischen Einflüssen angeblich stand. Hier erschien die Berufung auf eine germanische Identität der Deutschen um so abträglicher, je mehr Altertumsforscher die Germanen als ‚barbarische Wilde' charakterisierten. Insbesondere die Vorstellung eines jegliche kulturelle Entwicklung bedingenden Ursprungs im Orient - man denke an das zu einem abendländischen Identitätsmythos stilisierte Schlagwort ‚ex oriente lux' - wies die Identifikation mit germanischen Vorfahren in enge Grenzen und war mit dem nationalen Selbstverständnis nur zu vereinbaren, sofern die Germanen in ihrer Rolle als ein erst spät in die Weltgeschichte eintretendes ‚Hauptvolk der Weltgeschichte' akzeptiert wurden.
Während sich die glorifizierenden Schilderungen des germanischen Altertums zumeist auf die mittelalterliche Wikingerzeit, auf die ‚germanische' Völkerwanderung, auf den Triumph der Varusschlacht oder bestenfalls auf die legendären Züge der Kimbern und Teutonen zu Beginn des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts bezogen, hatte eine viele Jahrtausende zurückreichende germanische Urgeschichte in den meisten historischen Gesamtdarstellungen des 19. Jahrhunderts zunächst keine das nationale Selbstbild aufwertende Funktion.[18]
Zu den Konfliktpotentialen nationalen Selbstverständnisses, die aus der Fokussierung auf ethnohistorische Deutungen und Wertungen resultierten, traten kontroverse Auffassungen über die Datierung prähistorischer Abläufe. Während allgemeine historische Darstellungen bis mindestens zur Mitte des 19. Jahrhunderts den biblischen Zeitrahmen von 6 000 Jahren in der Regel nicht überschritten, unterstellten die von naturwissenschaftlichen und naturphilosophischen Ansätzen geprägten Gelehrten zunehmend eine Chronologie, die für die Erdentstehung Jahrmillionen und für die Entwicklung des Menschen und seiner Kultur zehntausende oder hunderttausende von Jahren veranschlagte.[19] Solche exorbitanten Datierungsansätze stellten überkommene Altertumskonzeptionen grundsätzlich in Frage, wie sich überhaupt die gesamte naturgeschichtliche Perspektive nach der Polemik Ernst Haeckels (1834-1919) als ein ‚Kulturkampf' zwischen christlich-orthodoxen ‚Papisten' und darwinistischen ‚Modernisten' darstellte.[20] Letztlich eröffneten die revolutionierenden neuen Datierungsoptionen aber neue Ansätze für die absolutchronologische Einordnung der menschheitlichen wie der ‚nationalen' Ur- und Frühgeschichte. Für die Frage nach der Kontinuität des einheimischen Altertums und der zeitlichen Reihenfolge archäologischer Funde ermöglichten sie Interpretationen, die die biblische Konzeption der Kultur- und Völkergeschichte und die in ihrer Tradition stehenden Wanderungsthesen in Abrede stellten.
Vor dem Hintergrund der geschilderten Konflikte und Kontroversen vermochte die deutsche Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts dem nationalromantischen Anspruch nach einer Identität von Germanen und Deutschen demnach nur bedingt gerecht zu werden. Hinderlich hierfür waren die unterstellte kulturgeschichtliche Priorität von Rom, Griechenland und des Orients, wie auch der angebliche Einfluß von Kelten und Slawen. In ihrer Summierung beförderten diese mit einem germanisch-deutschen Selbstverständnis konkurrierenden kulturhistorischen bzw. ethnohistorischen Perspektiven anhaltende Gelehrtendispute, insbesondere weil sie einer einvernehmlichen Definition nationaler Identität zuwiderliefen.

Der sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich abzeichnende Aufschwung der Naturwissenschaften revolutionierte nicht nur das Verständnis von Zeit, sondern führte vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie Charles Darwins (1809-1882) auch zu einem durchgreifenden Wandel des Menschenbildes sowie von der Entstehung und Differenzierung des Menschen in ‚Rassen' und Völker. Die im wesentlichen bis auf das 18. Jahrhundert zurückgehenden Rassentheorien hatten den primären Zweck, die Menschheit in ihrer weltumspannenden Vielfalt zu systematisieren und diese in ihrer vermeintlich natürlichen Hierarchie zu legitimieren.[21] Darüber hinaus transportierten die Rassentheorien Vorstellungen über die älteste Menschheitsgeschichte. Vor allem die geographische Verteilung von Merkmalshäufigkeiten sollte über ethnohistorische Prozesse Aufschluß geben. Hierbei wurde die ‚weiße Rasse' nicht nur regelmäßig als eine allen anderen Rassen überlegene beschrieben, sondern nicht selten mit Merkmalen gekennzeichnet, die dem taciteischen Germanenstereotyp ähnelten. Das darüber hinaus mit Indogermanen bzw. Ariern identifizierte Germanenstereotyp verband sich mit umfassenden kulturhistorischen Gesamtentwürfen.[22]

Die Bemühungen der Anthropologie des 19. Jahrhunderts waren vor dem Hintergrund erwarteter ethnohistorischer Erkenntnisse darauf gerichtet, die Rassensystematik mit Hilfe anthropometrischer Verfahren zu verifizieren und weiter zu differenzieren. Dabei galten neben der Pigmentierung vor allem Schädelformen als aussagekräftige Indizien für die Rassenzugehörigkeit von rezenten und prähistorischen Bevölkerungen. Bereits ab der Mitte des 19. Jahrhunderts kam es zur Definition eines ‚germanischen Typus', der sich idealerweise durch eine dolichocephale Schädelform und eine helle Färbung von Haut, Augen und Haaren auszeichnen sollte. Zu wichtigen Protagonisten dieses von zahlreichen europäischen Gelehrten geführten gelehrten Diskurses gehören z.B. der schwedische Anatom Anders Retzius (1796-1860), sein französischer Kollege Armand de Quatrefages (1810-1892) und die deutschen Anthropologen Julius Kollmann (1834-1918) und Rudolf Virchow (1821-1902).[23]
Die in weiten Teilen Europas und darüber hinaus mit dem Ziel einer rassentypologischen Bestandsaufnahme durchgeführten anthropometrischen Reihenuntersuchungen eröffneten allerdings sehr viel größere Interpretationsspielräume als dies die idealtypisch angelegte Rassensystematik zuließ. Insbesondere die geographische Verteilung der vermeintlich ‚germanischen Dolichocephalie' deckte sich durch die Zeiten nicht mit der erwarteten Verteilung der Pigmentierungsmerkmale und führte speziell die Schädelformenlehre in eine Krise.

Während der Nachweis des postulierten ‚germanischen Typus' als ein jenseits historischer Veränderungen stehendes Merkmalskombinat nach Meinung eines kritischen Wissenschaftlers wie Rudolf Virchow aus methodischen Gründen nicht aufrechtzuerhalten war, wurden die Einwände von zahlreichen durchaus angesehenen Gelehrten wie Alexander Ecker (1816-1887) und Julius Kollmann ignoriert. Noch konsequenter wurden jene Widersprüche von dilettierenden Außenseitern des Faches wie beispielsweise Ludwig Wilser umgangen oder sogar geleugnet. Jenseits der Kritik wurde von ihnen der Begriff des ‚germanischen Typus' zur Verfolgung frühgeschichtlicher ethnohistorischer Prozesse zum Nachweis von Siedlungskontinuitäten und Wanderungen weiterhin herangezogen und über die Fachpresse hinausgehend mit politischem Anspruch popularisiert. Als ideologisch überhöhte Denkfigur nahm so der bereits um 1850 geprägte Begriff des ‚germanischen Typus' den um die Jahrhundertwende auftauchenden Terminus der ‚nordischen Rasse' vorweg.
Mit dieser schon am Ende des 19. Jahrhunderts als fachwissenschaftlich problematisch und als ideologisch intendiert kritisierten Konzeption des ‚germanischen Typus' bzw. der ‚nordischen Rasse' stand ein begriffliches Instrumentarium bereit, das dazu diente, die häufig nur an wenigen Merkmalsindizien festgemachte ‚germanische' Zugehörigkeit oder andere ethnische Identitäten auszuweisen.[24] Dabei kam die Formulierung eines anthropologischen Germanenbegriffs und den sich an diesen anlehnenden rassengeschichtlichen Konzeptionen der nationalistischen Forderung nach einer Gleichung ‚germanisch-deutsch' entgegen. Der anthropologische Germanenbegriff war darüber hinaus dazu geeignet, die konkurrierenden Konzeptionen der nationalen Frühgeschichte zu neutralisieren: So erfuhren die unterstellten keltischen und slawischen Anteile am ‚eigenen' Vorzeiterbe auf dem Wege selektiv wahrgenommener bzw. gezielt propagierter rassentypologischer Zuweisungen ebenso eine Germanisierung, wie auch das römische Imperium und die griechische Antike in ihren maßgeblichen kulturtragenden Bevölkerungsteilen von einem ‚germanischen Typus' dominiert sein sollte. Kompensierte die rassenideologisch begründete historische Rolle der Germanen altertumskundliche Kontroversen auf nationaler Ebene, legitimierte die Unterstellung ‚germanischer' Oberschichten im römischen Imperium so wie die Konstruktion eines ‚nordischen Griechentums' eine ‚germanische' Überlegenheit nach außen.

Die Vorstellung einer sich über sehr lange Zeiträume erstreckenden Rassenevolution in geographisch isolierten Räumen mit klimatisch außerordentlichen Bedingungen, führte in den 1870er Jahren zu der Annahme einer Evolution der dem ‚germanischen Typus' zugeschriebenen Merkmalskombination im Norden. Mit dieser Ursprungsthese, die in Ansätzen bis in die 1820er Jahre zurückreicht[25], war die Voraussetzung für ein spezifisch völkisches Geschichtsdenken gegeben, weil sie eine Opposition gegen jene historiographische Prämisse ‚ex oriente lux' erlaubte, die den nationalen Selbstwert angeblich ursächlich minderte. Mit einer derartigen Unterstellung einer autochthonen Entwicklung konnte die für das völkische Denken konstitutive Vorstellung einer Einheit von Herkunft, Rasse, Kultur und Religion formuliert werden.

Die spezifisch völkische Vorstellung einer vom europäischen oder sogar arktischen Norden ausgehenden kulturhistorischen Superiorität des ‚germanischen Typus' führte schließlich über die Grenzen Europas weit hinaus und unterstellte einen ‚germanischen' Einfluß in nahezu alle Regionen der Erde. Blonde Kabylen und Tuaregs in Nordafrika, hellhaarige Mumien in altägyptischen Pharaonengräbern, sowie die hochrangigen Kasten Indiens mit ihrem helleren Teint und europäischem Erscheinungsbild wurden als anthropologische Spuren ‚nordischer Kulturbringer' interpretiert. Selbst bis in die Südsee zu den Maori sollten sich die ‚arischen' Wanderungen erstreckt haben. Derartig weitreichende kultur- und ethnohistorische Beziehungslinien basierten zunächst auf mehr oder minder naiv assoziierenden ethnographischen Vorlagen und sprachvergleichenden Deutungen des 17., 18. und 19. Jahrhunderts.[26] Nachdem bereits der französische Schriftsteller Arthur de Gobineau (1816-1882) in den 1850er Jahren viele der dort enthaltenen und an das anthropologische Germanenstereotyp erinnernden Merkmalsbeschreibungen aufgegriffen und in seinem ‚Essai' über die Ungleichheit der Menschenrassen verarbeitet hatte, begannen völkische Ideologen diese Kompilation verkürzend und zuspitzend zu rezipieren. Mit der seit der Jahrhundertwende vorliegenden, durch den völkischen Schriftsteller Ludwig Schemann (1852-1938) besorgten tendenziösen deutschen Übersetzung des Gobineau'schen ‚Rassenwerkes' fanden solche überspannten Interpretationen erstmals ein breiteres Publikum, hatten dessenungeachtet aber gleichzeitig ihre Entsprechung in Teilen der anthropologischen und altertumskundlichen Fachdebatten.

Das Germanenbild der Völkischen weist in großer Übereinstimmung auf drei zentrale Forderungen. Hierzu gehören erstens die Unterstellung der Existenz eines durch bestimmte Körper- und Pigmentierungsmerkmale gekennzeichneten ‚germanischen Rassentypus', zweitens die Anerkenntnis einer autochthonen Herkunft dieses Rassentyps im Norden und drittens die Behauptung einer Abstammungskontinuität der so definierten ‚Germanen' jenseits der historischen Überlieferung seit ur- und frühgeschichtlicher Zeit. Diese drei zentralen Forderungen völkischen Geschichtsdenkens lassen sich innerhalb der altertumskundlichen Debatte etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts fassen und werden etwa seit den 1880er Jahren als ein in sich geschlossenes ideologisches Konstrukt greifbar.

Vor allem der Autochthoniegedanke bildet den eigentlichen Kern des völkischen Geschichtsdenkens und konstituiert dessen innere Logik. Durch dessen Forderung nach sowohl abstammungsmäßiger als auch kulturhistorischer Autarkie des angeblich im Norden eingeborenen ‚germanischen' Urvolkes wurde mit der Vorstellung einer Einwanderung der germanischen Vorväter aus dem Osten gebrochen und letztlich genau das umschrieben, was völkische Ideologen als ‚arteigen' zu bezeichnen pflegten.

Eine konsequente Fortschreibung dieses völkischen Geschichtsdenkens sind die wenige Jahre nach 1900 sich gründenden neugermanisch-heidnischen Bewegungen, für die der überzeitlich gültige nordische Ursprung von ‚germanischer Rasse', Sprache und Religion ideologisch konstitutiv war.[27] Deren engagiertes Entgegentreten gegen die in ihren Augen ‚wissenschaftlich' überholte These ‚ex oriente lux' mündete in einen sich ebenfalls auf Rasse und Religion erstreckenden Antisemitismus, der zum vermeintlich ‚positiven' Germanenmythos das gleichsam negative Gegenkonzept darstellte.[28]

Die an Rassenstereotype geknüpfte, spezifisch völkische Konzeption des germanischen Altertums bildet die Voraussetzung für die Aufhebung des traditionellen Identitätsmythos ‚ex oriente lux' und dessen Umkehrung in den völkischen Identitätsmythos ‚ex septentrione lux'. In diesem mit religiösen Grundfragen nach dem ‚Woher' und ‚Wohin' verknüpften Identitätskontext geriet die Germanenideologie zu einem politisch und emotional wirkungsmächtigen Germanenmythos.

Fussnoten
  1. Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Fassung des Aufsatzes „Der völkische Germanenmythos als Konsequenz deutscher Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts", erschienen in Heidi Hein-Kircher und Hans Henning Hahn (Hg.): Politische Mythen im 19. und 20. Jahrhundert in Mittel- und Osteuropa (Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung 24), Marburg 2006, S. 157-166.

  2. Klaus von See: Deutsche Germanen-Ideologie vom Humanismus bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. 1970; Allan A. Lund: Germanenideologie im Nationalsozialismus. Zur Rezeption der »Germania« des Tacitus im „Dritten Reich", Heidelberg 1995; Rainer Kipper: Der Germanenmythos im Deutschen Kaiserreich. Formen und Funktionen historischer Selbstthematisierung, Göttingen 2002.

  3. Uwe Puschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache - Rasse - Religion, Darmstadt 2001; Uwe Puschner: Germanenideologie und völkische Weltanschauung, in: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer und Dietrich Hakelberg (Hg.): Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch". Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 34), Berlin/ New York 2004, S. 103-129.

  4. Ingo Wiwjorra: Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 2006.

  5. Alfons Grieder: „Ideologie» - Unbegriffenes an einem abgegriffenen Begriff, in: Kurt Salamun (Hg.): Ideologien und Ideologiekritik. Ideologietheoretische Reflexionen, Darmstadt 1992, S. 17-30, hier S. 19. [6] „Mythos«, in: Der Große Brockhaus, Bd. 15, Mannheim 1991, S. 271-274. Zu Mythosbegriff im Kontext des Germanischen siehe Heidi Hein-Kircher: Zur Definition, Vermittlung und Funktion von politischen Mythen, in: Lippisches Landesmuseum Detmold: 2000 Jahre Varusschlacht. Mythos, Stuttgart 2009, S. 149-154.

  6. »Mythos«, in: Der Große Brockhaus, Bd. 15, Mannheim 1991, S. 271-274. Zu Mythosbegriff im Kontext des Germanischen siehe Heidi Hein-Kircher: Zur Definition, Vermittlung und Funktion von politischen Mythen, in: Lippisches Landesmuseum Detmold: 2000 Jahre Varusschlacht. Mythos, Stuttgart 2009, S. 149-154.

  7. Tacitus: Germania, Kapitel 2.

  8. Helmut Berding (Hg.): Nationales Bewußtsein und kollektive Identität (Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2), 2. Aufl., Frankfurt/M. 1996; Monika Flacke (Hg.): Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama. Begleitband zur Ausstellung vom 20. März 1998 bis 9. Juni 1998, Berlin 1998.

  9. Heinrich Beck: „Germanische Altertumskunde" - Annäherung an eine schwierige Disziplin, in: Beck/ Geuenich/ Steuer/ Hakelberg (wie Anm. 3), S. 629-647.

  10. Zum Profil dieser Zeitschrift siehe Gregor Hufenreuter: Wege aus den «inneren Krisen» der modernen Kultur durch «folgerichtige Anwendung der natürlichen Entwicklungslehre»: Die Politisch-Anthropologische Revue (1902-1914), (im Druck).

  11. Heinz Grünert: Gustaf Kossinna (1858-1931). Vom Germanisten zum Prähistoriker. Ein Wissenschaftler im Kaiserreich und in der Weimarer Republik (Vorgeschichtliche Forschungen 22), Rahden/Westf. 2002, S. 304-313.

  12. Siehe Beiträge in Beck/ Geuenich/ Steuer/ Hakelberg (wie Anm. 3).

  13. Mamoun Fansa (Hg.): Varusschlacht und Germanenmythos. Eine Vortragsreihe anläßlich der Sonderausstellung Kalkriese Römer im Osnabrücker Land in Oldenburg 1993 (Archäologische Mitteilungen aus Nordwestdeutschland, Beiheft 9), Oldenburg 1994; Rainer Wiegels und Winfried Woesler (Hg.): Arminius und die Varusschlacht. Geschichte - Mythos - Literatur, Paderborn/ München/ Wien/ Zürich 1995; Beiträge in Lippisches Landesmuseum Detmold: 2000 Jahre Varusschlacht. Imperium - Konflikt - Mythos, Stuttgart 2009

  14. Bernd Henningsen, Janine Klein, Helmut Müssener und Solfried Söderlind (Hg.): Wahlverwandtschaft. Skandinavien und Deutschland 1800-1914, Berlin 1997; Julia Zernack: Germanische Altertumskunde, Skandinavistik und völkische Religiosität, in: Stefanie von Schnurbein und Justus H. Ulbricht (Hg.): Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe „arteigener" Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001, S. 227-253.

  15. Sebastian Brather: Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 42), Berlin/ New York 2004.

  16. Helmut Birkhan: Nachantike Keltenrezeption. Projektionen keltischer Kultur, Wien 2009, dort zur Keltomanie in Mitteleuropa, S. 486-512.

  17. Michael Müller-Wille: Deutsche Ostforschung und Archäologie, in: Jan M. Piskorski (Hg.): Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Disziplinen im Vergleich, Osnabrück/ Poznan 2002, S. 81-92; Zofia Kurnatowska und Stanislaw Kurnatowski: Der Einfluß nationalistischer Ideen auf die mitteleuropäische Urgeschichtsforschung, in: Piskorski, S. 93-103; Ingo Wiwjorra: ‚Germanen' und ‚Slawen' Ostmitteleuropas als Autochthone oder Allochthone. Historiographische Konflikte als Vorlage für politische Konzeptionen, in: Heidi Hein-Kircher, Jaroslaw Suchoples und Hans Henning Hahn (Hg.): Erinnerungsorte, Mythen und Stereotypen in Europa / Miejsca pamieci, mity i stereotypi w Europie, Wroclaw 2008, S. 85-101.

  18. Ingo Wiwjorra: „Ex oriente lux» - „Ex septentrione lux«. Über den Widerstreit zweier Identitätsmythen, in: Achim Leube (Hg.): Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933-1945 (Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 2), Heidelberg 2002, S. 73-106.

  19. Stephen Toulmin und June Goodfield: Entdeckung der Zeit, München 1970.

  20. Ernst Haeckel: Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie (Volks-Ausgabe), Bonn 1903. Zu dieser Thematik siehe Horst Groschopp: Dissidenten. Freidenkerei und Kultur in Deutschland, Berlin 1997; Andreas Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848-1914, München 1998.

  21. Patrik von Zur Mühlen: Rassenideologien, Geschichte und Hintergründe, Berlin/ Bonn-Bad Godesberg 1977; George L. Mosse: Rassismus. Ein Krankheitssymptom in der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Königstein/Ts. 1978; Werner Conze und Antje Sommer: Rasse, in: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd.5, Stuttgart 1984, S. 135-178.

  22. Léon Poliakov: Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus, Hamburg 1993.

  23. Zur Genese des anthropologischen Germanenbegriffs siehe Wiwjorra (wie Anm. 4), S. 198-245.

  24. Beispielhaft hierfür Alfred Schliz: Rassenfragen, in: Reallexikon der germanischen Altertumskunde, Bd.3, hg. von Johannes Hoops, Straßburg 1915/16, S. 439-459.

  25. Diese rassentheoretisch untermauerte Nordthese geht maßgeblich auf die Historiker Heinrich Schulz (1780-1844) und Knut Jungbohn Clement (1803-1873) zurück. Siehe Wiwjorra (wie Anm. 4), S. 250-254.

  26. Werner Petermann: Die Geschichte der Ethnologie, Wuppertal 2004.

  27. Beiträge in Schnurbein (wie Anm. 14).

  28. Klaus von See: Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen, Heidelberg 1994, S. 283-318.

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