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Mord und Totschlag Wie der Mensch den Krieg erfand

Ist dem Homo sapiens der Krieg in die Wiege gelegt? Glaubt man gängigen Vorstellungen, war schon die Steinzeit ein Tummelplatz von Keulenschwingern und Schädelspaltern. Doch bei einem genaueren Blick werden Überraschungen sichtbar.
Von Dirk Husemann

Schon lange vor den Kreuzzügen des Mittelalters, den Feldzügen Alexanders des Großen und den Massenschlachten der Ägypter und Hethiter führten die Menschen Krieg. Gesammelte Schädel der Altsteinzeit scheinen auf Trophäensammlungen erschlagener Feinde hinzudeuten, ein Massengrab der Jungsteinzeit ist mit vermutlich eilig verscharrten Mordopfern gefüllt, die Kulturen der Bronzezeit fallen den Archäologen besonders durch ihre Waffen und Befestigungen auf.

Krieg scheint eine zeitlose Krise zu sein. Oder liegt der Fall ganz anders? Sind die Schädelsammlungen nur eine Form von Ahnenverehrung, das Massengrab Zeichen für die religiöse Opferung Angehöriger, die Waffen bloß Paradestücke? Hinweise auf die Wurzeln menschlicher Aggression liefert die Archäologie.

Als dumpfer Grunzer und Gewalttäter schlechthin galt lange Zeit der Neandertaler. Aus einer Hand voll Knochen rekonstruierten Forscher im 19. Jahrhundert nicht nur die Gestalt der ausgestorbenen Menschenart, sie meinten auch, Wut und Wildheit in den Überresten ausmachen zu können. Ein Auslöser für die Erfindung von Schauergeschichten rund um den Neandertaler war eine Entdeckung beim kroatischen Krapina. Dort hob der Geologe Dagutin Gorjanovic Kramberger 1899 den Nibelungenschatz der Neandertalerforschung: 884 Knochentrümmer gab das Erdreich unter einem Felsüberhang preis, die Stücke so zersplittert, dass bis heute niemand weiß, ob 20 oder 80 Menschen hier ihr Ende fanden. Auch die Ursache ihres Todes ist noch immer ungeklärt. Dabei wäre sie von besonderem Interesse, weil einige Knochen Brandflecken und Schnittmarken aufweisen – Spuren, wie sie für die Reste eines Kannibalenschmauses typisch sind.

Der kroatische Fund verkam zum Beweis für die Brutalität des frühen Menschen. Nicht ein Skelett war vollständig. Viele Fragmente hatten Kerben, die nur von scharfen Werkzeugen stammen konnten. Tierverbiss war auszuschließen, er zeigt andere Merkmale. Jemand hatte sich an den Leichen zu schaffen gemacht. Für die Forscher der Jahrhundertwende stand außer Frage, dass hier Kannibalen am Werk gewesen waren. Was viele vermutet hatten, schien erwiesen: Neandertaler waren Bestien, die ihre Artgenossen fraßen.

Kannibalen aus Liebe

Menschenfresserei aber gilt nur bei den Gesellschaften der Industrienationen als barbarischer Akt. Selbst im Tod wird der Körper des Feindes noch geschändet, sein Fleisch vernichtet, nachdem sein Geist bereits besiegt wurde. Hingegen kennen Völkerkundler und Geschichtswissenschaftler einen derartigen Aggressionskannibalismus nur von Gerüchten der frühen Neuzeit: Konquistadoren und Kolonialisten, die im 15., 16. und 17. Jahrhundert nach Übersee aufbrachen, kehrten mit haarsträubenden Geschichten heim, in denen nackte Wilde Menschen fraßen. Bis heute ist der Missionar im Kochtopf ein beliebtes Sujet von Karikaturisten. Tatsächlich mögen die Entdecker jener Tage mehr in der Fremde gefunden haben, als ihnen lieb war, nur blieb ihnen der kulturelle Hintergrund dieser Handlungen verborgen. Das Bild vom Eingeborenen, der seine Feinde verschlingt, zeigt vor allem eins, nämlich Unverständnis gegenüber fremden Kulturen.

Ethnologen kennen zwei Ursachen für Kannibalismus – Hunger und Spiritualität. Aus historischer Zeit ist das Verzehren von Artgenossen aus Überlebensgründen in seltenen Fällen belegt: in belagerten Städten, bei Grubenunglücken, Flugzeug- oder Schiffskatastrophen. Für die Neandertaler von Krapina kommt eine Hungersnot als Erklärung nicht in Frage. Bei den Menschenknochen lagen hunderte Tierknochen, die ähnliche Bearbeitungsspuren aufwiesen wie die menschlichen Skelettfragmente. Nahrung gab es also im Überfluss. Der Verzehr von Artgenossen war nicht aus der Not geboren.

Kannibalismus aus spirituellen Gründen hingegen ist weiter verbreitet. Noch heute kennen Ethnologen Beispiele für das Verspeisen von Menschen. In Papua-Neuguinea essen Angehörige des Stamms der Fore das Fleisch der Verstorbenen. Die Yanomami im Amazonas-Regenwald verbrennen die Toten und rühren ihre Asche in einer komplexen Zeremonie in eine breiartige Bananensuppe, die sie dann verzehren.

Solche Praktiken zeigen keines falls Menschen als Leichen fressende Bestien. Sie sind Beispiele für einen sorgsamen Umgang mit dem Tod. In einigen Fällen dient die Aufnahme des Verstorbenen in den Körper der Lebenden dem Erhalt seiner Seele. Dabei findet der Geist des Toten im Fleisch seiner Verwandten neue Heimat. Von anderen Fällen ist bekannt, dass die Kraft des Verblichenen durch Verzehr seiner Überreste auf die Lebenden übergehen soll. In beiden Varianten soll die Lebensenergie des Verstorbenen auf eine spirituelle Weise erhalten werden.

Tod in Rot

Die Ähnlichkeiten zum Fund von Krapina sind frappierend. Die große Zahl der Toten in Kroatien ist kein Beleg für ein Steinzeit-Schlachtfeld, sie spricht vielmehr für einen Kultplatz. Hier mag Verstorbenen die letzte Ehre erwiesen worden sein, indem ihnen die Hinterbliebenen das Fleisch von den Knochen lösten und die Überreste rituell verspeisten. Die Knochen könnten im Anschluss an die Zeremonie vergraben worden sein. Immerhin war der Neandertaler die erste Menschenart, die ihre Toten bestattete. Doch 130.000 Jahre nach den Ereignissen auf dem Balkan war in unseren Breiten Kannibalismus als emotional positives Ritual in Vergessenheit geraten.

Weitere Indizien für die vermeintlich schlimmen Zustände in der Frühzeit kamen im Jahr 1908 ans Tageslicht. Die Debatte um Krapina lief auf vollen Touren, als der Tübinger Forscher Richard Rudolf Schmidt einen spektakulären Leichenfund machte. Schmidt stieß in der Großen Ofnethöhle im Nördlinger Ries auf zwei Mulden mit 34 Menschenköpfen. Der Fund stammte aus der Mittelsteinzeit. Diesmal konnte nur Homo sapiens der Täter sein.

Die Schädel waren so platziert, dass sie allesamt zum Höhlenausgang blickten. Der lag im Westen. Einst waren also die Strahlen der untergehenden Sonne über die Schädelnester gewandert. Schmidt hatte einen Kultplatz entdeckt. Sein Fund sorgte in den folgenden Jahren für eine emotional geführte Debatte über die Kopfjäger der europäischen Vergangenheit.

Die Untersuchung der Fundstelle ergab grausige Details. Schmidt fand in den Mulden auch Unterkiefer und Halswirbel. Wären die Schädel hier in entfleischter Form zusammengelegt worden, hätten Kiefer und Wirbel gefehlt. So aber war gewiss, dass die Köpfe mit Haut und Haar in die Höhle getragen worden waren, nachdem die Kopfsammler sie zuvor von den Rümpfen getrennt hatten. Ob Enthauptung die Todesursache der 34 Ofnet-Opfer war, ließ sich nicht feststellen. Wohl aber spielte Gewalt eine Rolle. Auf sechs der Schädel schlugen die Mesolithiker so kräftig ein, dass der Knochen brach. Keine der Verletzungen zeigte Spuren von Heilung. Die Hiebe müssen also entweder zum Tod der Opfer geführt haben oder ihnen nach dem Ableben zugefügt worden sein.

Der Anthropologe David W. Frayer vom University of Kansas Museum of Anthropology vertritt die Ansicht, dass mit den Kopfbestattungen in der Großen Ofnethöhle ein einmaliges Beispiel prähistorischer Gewalt vorliege, "ein Massaker, bei dem eine große Zahl von Männern, Frauen und Kindern hingeschlachtet wurde". Frayer deutet die Überzahl von Frauen- und Kinderschädeln dahingehend, dass eine feindliche Gruppe die Ofneter überfallen habe, als deren männliche Mitglieder gerade nicht im Lager waren.

Doch wie bei Krapina offenbart genaues Hinsehen auch in der Großen Ofnethöhle Einblicke in ein tiefes religiöses Empfinden der Steinzeitmenschen. In die Schädelnester war Rötel eingestreut worden. Dieses Gemenge aus rotem Eisenocker und Ton gab der steinzeitliche Homo sapiens häufig in seine Gräber, so im Fall eines alten Mannes und einer jungen Frau bei Oberkassel. Schon die Neandertaler nutzten die Naturfarbe sowohl zur Körperbemalung als auch bei Bestattungen. Darüber hinaus waren den Toten der Ofnethöhle tausende Schmuckstücke mit ins Grab gelegt worden. Neben 215 Hirschzähnen zählte Ausgräber Schmidt 4250 Gehäuse von Schmuckschnecken. Alle waren durchbohrt und müssen ursprünglich zu Ketten oder Netzen aufgefädelt gewesen sein. Wie immer die 34 Menschen zu Tode gekommen waren – ihre Bestattung war ein Akt, bei dem die Reste der Toten mit großer Sorgfalt in die Mulden gelegt worden waren.

Zu Schmuck und Rötel, zu der behutsamen Ausrichtung der Köpfe nach Westen scheint die Theorie vom Totschlag nicht zu passen. Eine Rotte brutaler Schläger hätte die Opfer bestenfalls verscharrt, um Spuren zu beseitigen. Die rituelle Behandlung aber deutet auf einen Brauch hin, der seit der Steinzeit bekannt ist und sich bis in die Neuzeit bei vielen Völkern und auch in europäischen Kulturen erhalten hat: den Schädelkult.

Der Kopf eines Menschen gilt noch heute als Sitz besonderer Kräfte. Schon die Neandertaler bestatteten die Schädel ihrer Verstorbenen oft abseits vom restlichen Körper. Von allen bisher bekannten Neandertalerfunden sind es meist die Schädel, die erhalten sind. 84 Prozent aller Knochenfunde bestehen hauptsächlich aus Teilen des Kopfs, nur bei 34 Prozent sind auch Teile des Körperskeletts entdeckt worden. Und die Köpfe rollten weltweit. In der Höhle von Zhoukoudian bei Peking lagen die Schädelreste von 40 Vertretern des Homo erectus, in Lysaja Gora in der Ukraine lagen 21 Menschenschädel aus der Mittelsteinzeit in einer Grube, in der Vogelherdhöhle auf der Schwäbischen Alb waren ein Mann, eine Frau und ein Kind enthauptet und beigesetzt, im Jericho der Jungsteinzeit wurden 85 Schädel aufbewahrt. Die Mesolithiker vom Nördlinger Ries waren keine bestialischen Massenmörder. Sie handelten in einer spirituellen Tradition.

Das muss freilich nicht bedeuten, dass in der Steinzeit Gewalt nicht vorkam. In einer Höhle auf Sizilien entdeckten Archäologen die Überreste einer Frau, die gewaltsam zu Tode gekommen war. In ihrem Beckenbereich steckte eine Pfeilspitze. Das Skelett stammt aus der Zeit um 11.000 v. Chr., der beginnenden Mittelsteinzeit. Aus derselben Periode sind in der Grotta de Fanciulli in Italien Überreste eines Kinds gefunden worden. Auch in diesem Fall führte ein Pfeil zum Tod, diesmal steckte die Spitze noch in der Wirbelsäule. Funde wie diese sind bekannt von der Atlantikküste bis zur Ukraine.

Eine Frage der Ehre

In einem der Gräber von Vedbaek in Dänemark lag eine Pfeilspitze neben einer toten Frau. Im Skelett eines Mannes aus Teviec in der Bretagne fanden Archäologen zwei Pfeilspitzen im Rückgrat. Meist sind diese Funde in die Zeit um 7000 v. Chr. datierbar. Dennoch gelten diese Tatbestände nicht als Beleg dafür, dass die Mesolithiker ein besonders großes Gewaltpotenzial entwickelten. Vielmehr setzte in dieser Periode der allmählich ausklingenden Mittelsteinzeit eine Tendenz zur Bestattung ein. Gräber wurden häufiger und sorgfältiger angelegt als zuvor. Tote und Todesursachen sind deshalb besser überliefert.

Eine mögliche Ursache für eine höhere Gewaltbereitschaft ist die beginnende Sesshaftigkeit, die am Ende des Mesolithikums einsetzte. Viele Urgeschichtler glauben an eine Trennung der menschlichen Gesellschaft in solche, die noch der traditionellen Lebensweise verhaftet blieben und als Nomaden durch die Wälder streiften, und jene, die länger an bestimmten Orten verweilten. Aus diesem Gegensatz wird nicht sofort ein Kampf um Land entbrannt sein – das Klima der Mittelsteinzeit beschenkte die Menschen mit einer üppigen Umwelt, in der jeder Raum und Nahrung finden konnte. Doch könnte der Unterschied, die Fremdartigkeit der jeweils andersartig Lebenden, Angst vor diesen Gruppen verursacht haben.

Nick Thorpe vom King’s Alfred College in Winchester hält elementare Emotionen für den Auslöser steinzeitlicher Gewalt: "Ich glaube, dass Krieg ausgelöst wurde durch Fragen der Ehre – die sich aus Beleidigungen, fehlgeschlagenen Ehen oder Diebstahl ergeben. In einer kleinen Jäger-Sammler-Gruppe ist jeder mit jedem versippt. Ein Angriff auf ein Gruppenmitglied entspricht einem Angriff auf die gesamte Gruppe. Eine persönliche Fehde bezieht die gesamte Gemeinschaft mit ein. Von dort ist es nur ein kleiner Schritt zum Krieg."

Die Völkerkundler kennen vier Motive, aus denen Kriege entstehen können. Verteidigung und Rache, Revier und Eigentum, Trophäen und Ehre, Eroberung und Unterdrückung. Eine andere, populäre Theorie erklärt Krieg mit dem angeblichen Killerinstinkt des Menschen – eine Behauptung, die Krieg zu etwas Biologischem und damit Unausweichlichem heranwachsen lässt. Doch in der Geschichtsforschung setzt sich mehr und mehr die Meinung durch, dass jeder Krieg nur aus seinem eigenen historischen Zusammenhang betrachtet werden kann. Einen universellen Grund für Gewalt zwischen Gruppen gibt es demnach nicht.

Eine Entdeckung, in der ritueller und gewaltsamer Tod eindeutig unterschieden werden können, stammt aus Nordafrika. In Jebel Sahaba, im Sudan, entdeckte der amerikanische Anthropologe Fred Wendorf in den 1960er Jahren die Überreste von 59 Menschen. 24 von ihnen waren nachweislich durch Gewalteinwirkung zu Tode gekommen. In ihren Gräbern lagen steinerne Pfeilspitzen, in einigen Fällen steckten die Projektile noch in den Knochen der Skelette.

Auch für jene, die nicht in den Gebeinen verblieben waren, konnte Wendorf ausschließen, dass sie als Grabbeigabe verwendet worden waren: Alle 110 Spitzen lagen so zwischen den Skeletten, dass sie bei der Bestattung in den Körpern gesteckt haben mussten. Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen war in etwa ausgewogen, auch einige Kinderskelette zeigten Spuren von Verletzungen. Auffällig waren die Überreste einer Frau, deren Gebein ein Dutzend Brüche aufweist. Solche Wunden entstehen beim Nahkampf oder durch Schläge von mehreren Angreifern gleichzeitig.

Bis heute ist nicht bekannt, ob die Toten von Jebel Sahaba alle zur selben Zeit bestattet wurden oder ob der Friedhof über Jahre hinweg benutzt worden ist. Wendorf entdeckte in der Nähe eine weitere Begräbnisstätte aus derselben Zeit und machte eine erstaunliche Entdeckung. In diesen Gräbern lag kein einziger Toter mit Verletzungen. Dieser Unterschied macht wahrscheinlich, dass Jebel Sahaba eine Grabstelle war, in dem nur jene zur letzten Ruhe gelegt wurden, die eines gewaltsamen Todes gestorben waren. Ein Massaker ist demnach vermutlich auszuschließen.

Die Ereignisse von Jebel Sahaba liegen 12.000 Jahre zurück. Zu dieser Zeit lebte der Mensch in Nordafrika schon in einer weiter entwickelten Kultur als in Europa. Das Mesolithikum hatte sich im südlichen Mittelmeerraum und in Teilen Afrikas früher herausgebildet und zeigte bereits erste Spuren der Jungsteinzeit: Im Niltal bauten die Menschen der Qudankultur während der Ereignisse von Jebel Sahaba bereits Getreide an, sie kannten die Feldbewässerung und verschiedene Erntetechniken. Damit entsprechen die gesellschaftlichen Zustände zur Zeit der Begräbnisse im Sudan in etwa denen, wie sie in Mitteleuropa um 7000 v. Chr. herrschten.

Böses Erwachen im Morgenrot

Damals ereignete sich in der Nähe des heutigen Heilbronn ein Gewaltakt, der belegt, dass auch in Europa die ersten Tage der Zivilisation mit Blut getränkt waren. Das Massengrab von Talheim gilt als Paradebeispiel für Gewalttätigkeiten auf Grund der Sesshaftigkeit. Hier entdeckte ein Hobbygärtner im Jahr 1983 die Überreste einer erschlagenen Steinzeitsippe. Die Toten lagen über- und untereinander auf dem engen Raum von 1,5 mal 2,5 Metern – das entspricht einem modernen Dreifachgrab. In dieser Grube aber befanden sich 34 Leichen. Sie waren nicht sorgsam bestattet, sondern achtlos verscharrt worden. Ihr Alter: 7700 Jahre.

Was war da in grauer Vorzeit an den Hängen des Schozachtals geschehen? Jene unglücklichen Menschen aus der Jungsteinzeit lebten vermutlich in mehreren Wohn-Stall Häusern gemeinsam mit ihrem Vieh unter einem Strohdach. In den Häusern schliefen neun erwachsene Männer, neun Frauen sowie 16 Kinder und Jugendliche. An die statistischen Maße unserer heutigen Gesellschaft angelegt, lebten hier drei Großfamilien.

Innerhalb weniger Stunden war die Idylle am Morgen der Zivilisation zerstört. Eine feindliche Gruppe stürmte das Dorf und erschlug die Familien. Dann hoben die Unbekannten eilig eine Grube aus und verscharrten die Leichen. Was sie an Geschirr in den Häusern fanden, zerschlugen sie und bedeckten damit die Toten – vermutlich, damit diese nicht von Tieren ausgegraben werden konnten. Damit ist die Bestandsaufnahme beendet. Gewiss ist nur, dass die Talheimer durch Gewalteinwirkung starben. 59 Prozent der Skelette zeigen schwere Schädelverletzungen. Fast alle waren tödlich.

Ohne Brüche blieben hingegen Arme und Schultern der Skelette. Dort hinterlassen Kämpfe Mann gegen Mann jedoch am häufigsten Wunden durch Abwehrbewegungen. Die Unversehrtheit dieser Partien an allen 34 Skeletten deutet darauf hin, dass die Opfer die Arme nicht gehoben haben, um sich zu schützen. Vermutlich wurden sie entweder von den Angreifern im Schlaf überrascht oder auf der Flucht von hinten erschlagen.

Bislang galt Talheim in der Archäologie als Beleg für Handgreiflichkeiten in der Steinzeit. Keine abgetrennten Schädel wie in der Großen Ofnethöhle, kein ritueller Kannibalismus – hier wurde einfach zugeschlagen. Eigentum macht angreifbar. Im Archiv des Landesamts für Bodendenkmalpflege Baden-Württemberg jedoch entdeckte kürzlich ein Sachbearbeiter mikroskopisch feine Schnittspuren auf Talheimer Schädeln. Solche Marken aber sind Hinweise auf Entfleischung und damit auf eine rituelle Handlung.

Die Gewaltorgien der Steinzeit scheinen Fantasieprodukte der Gegenwart zu sein. Vielmehr entpuppt sich der neolithische Kulturschock mehr und mehr als Friedensstifter: Nur wenige Kilometer von Talheim entfernt gelang es Bauern und Jägern, in einer Gemeinschaft zusammenzuleben. Das fand 2003 der Anthropologe Douglas Price von der University of Wisconsin heraus. Er untersuchte die Knochen eines jungsteinzeitlichen Friedhofs am Viesenhäuser Hof und analysierte die Strontium-Isotope in den Zähnen der Bestatteten.

Die chemischen Elemente verrieten, wo sich die Menschen seit ihrer Kindheit aufgehalten und welche Nahrung sie bevorzugt hatten. Ergebnis: Am Viesenhäuser Hof lebten zum einen Menschen, die ihr gesamtes Leben dort verbracht und die örtlichen Nahrungsquellen genutzt hatten. Ein anderer Teil aber war zugewandert. Price erkannte, dass sich eine Gruppe von Jägern und Sammlern den hier sesshaften Bauern angeschlossen hatte. Die neuen Nachbarn müssen sich perfekt assimiliert haben. In der Steinzeitkommune herrschte Harmonie.

Dirk Husemann ist Archäologe sowie freier Journalist und Autor in Ostbevern bei Münster.