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Richtstätten-Archäologie Grabungen an Orten des Grauens

Im Mittelalter wurden selbst kleine Vergehen grausam bestraft. Delinquenten wurden geköpft, verstümmelt, gerädert oder ausgeweidet. Archäologen graben mit wachsendem Eifer an alten Richtstätten - und stoßen auf Spuren tragischer Schicksale.
Von Jost Auler

"Der nicht mehr intakte Schädel lag zwischen den Füßen. Die Knochen des Thorax, besonders die Rippen, waren zerbrochen, offenbar durch Räderung, mehrfach auch die Röhrenknochen der Extremitäten. Über dem Leichnam war Unrat wie Asche und dergleichen angehäuft. Dabei fand sich auch ein kleines Salbenbüchschen mit braunvioletter Glasur, wie sie für das 15. Jahrhundert charakteristisch ist."

Eigentlich suchte Kreiskonservator Walter Götze 1912 ein vorgeschichtliches Grab. Auf einer Anhöhe in Sachsen-Anhalt hatten Bauern es 130 Jahre zuvor auf kuriose Weise entdeckt. Einem flüchtenden Kaninchen war es dort gelungen, einer Jagdgesellschaft zu entkommen. Der Fürst befahl den Hügel von der Seite her aufzugraben, doch statt des Wilds kamen massive Sandsteinplatten zum Vorschein.

Götze vermutete ein vorgeschichtliches Dolmengrab unter dem Hügel, trug die Erde aber von oben her ab. Überraschend stieß er in geringer Tiefe auf ein jüngeres Grab: das eines im Mittelalter hingerichteten Delinquenten.

Sühne und vor allem Abschreckung waren das Ziel einer jeden Strafe, die im Namen Gottes verkündet wurde. Die Idee einer Wiedereingliederung Krimineller in die Gesellschaft war Richtern im Mittelalter fremd; ihr Rechtsverständnis blieb die Basis der Urteilsfindung bis weit in das 18. Jahrhundert.

Kam das Gericht auf der Grundlage eines oft unter Folter erzwungenen Geständnisses zu seinem Urteil, verlieh es ihm symbolisch durch das Brechen eines Stabes Gültigkeit. Verstümmelung war eine gängige Strafe, etwa das Abhacken einer Hand bei Münzfälscherei. Mit dem Tod ahndeten die Richter ebenfalls zahlreiche Delikte: Mord, zumeist auch Totschlag, Brandstiftung, Landesverrat und Majestätsbeleidigung, Bigamie, Unzucht und Ketzerei. Selbst bei dieser endgültigen Sühne gab es Unterschiede: Wer seinen Kopf auf den Richtblock legte, fand relativ schnell den Tod; wen die Büttel auf das Rad flochten, starb erst, nachdem ihm jeder Knochen im Leib gebrochen war.

All dies wissen Historiker vor allem aus Verhandlungsprotokollen und Urteilen, aus zeitgenössischen Illustrationen und Rechtsbüchern wie dem um 1200 verfassten "Sachsenspiegel", der das Landrecht erstmals schriftlich fixierte. Doch auch Funde wie der des Kreiskonservators Walter Götze tragen zum Verständnis bei. Hatte damals der Zufall die Hand im Spiel, suchen Archäologen heutzutage auch gezielt nach den Resten mittelalterlicher Richtstätten und den dort Verscharrten. Dabei folgen sie Hinweisen aus alten Handschriften und Karten oder werden schlicht durch Flurnamen wie "Galgenfeld" oder "Auf dem Richterberg" aufmerksam.

Zehntausende Richtstätten

Leider sind die Funde des Kreiskonservators nicht mehr erhalten. Das gilt auch für einige spätere Entdeckungen. Obwohl Walter Götze einen so genauen Bericht hinterließ, gilt deshalb ein anderes Jahr als Geburtsjahr der Richtstättenarchäologie. Ausgerechnet am 30. August 1940, knapp ein Jahr nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen, meldete ein Gendarmeriemeister aus Steyerberg bei Nienburg dem Landesmuseum Hannover einen Skelettfund in einer Kiesgrube. Der Verstorbene, so erkannte der Archäologe Heinrich Schwieger, war enthauptet worden. Außerdem kamen in der Grube Reste eines hölzernen Galgens zum Vorschein.

Zehntausende solcher Richtstätten muss es im Mittelalter und in der frühen Neuzeit in ganz Europa gegeben haben, etwa fünfzig sind bislang wissenschaftlich untersucht worden. Als Symbol der Gerichtsbarkeit und zur Abschreckung lagen sie an Ausfallstraßen oder markanten Wegkreuzungen vor Burgen, Dörfern oder Städten, auf natürlichen oder künstlich angelegten Hügeln. Als Rechtsbezirk durch einen Zaun oder eine Mauer abgegrenzt, ragte dort der Galgen auf. Die ältesten derartigen Plätze stammen aus dem 13. Jahrhundert.

Der Weg zur Richtstätte war manchmal schon Teil der Strafe: Der Verurteilte wurde währenddessen mit glühenden Zangen gepeinigt oder von einem Pferd über den Erdboden geschleift. Auch ohne solche Folter - wie muss sich ein Delinquent gefühlt haben, als er den Galgen erblickte, die am Himmel kreisenden Rabenvögel? Trotz des Gestanks von verwesendem Fleisch warteten Schaulustige, denn Hinrichtungen waren von der Obrigkeit inszenierte Spektakel der Abschreckung. Deshalb brachten die Stadtbüttel die Leichen auch erst viel später unter die - natürlich ungeweihte - Erde, sei es direkt unter der Richtstätte oder in ihrem unmittelbaren Umfeld.

Die Skelette dieser Unglücklichen sind heute eine wichtige Informationsquelle. Teilbestattungen unter dem Galgen oder Beisetzungen mit abgetrenntem Schädel zwischen den Füßen sprechen eine deutliche Sprache: Hinrichtungen erfolgten tatsächlich so wie in Schriftquellen mannigfach beschrieben.

Die Art der "technischen Durchführung" erkennt der Anthropologe an Spuren auf den Knochen. Diese bezeugen gelegentlich sogar, dass der Scharfrichter sein Handwerk nicht verstand - mehrfach führte er das Schwert, um den Kopf vom Rumpf zu trennen.

Archäologen entdeckten bei Næstved auf der dänischen Insel Seeland in einer Grube nahe einer Richtstätte drei Männer und eine Frau; alle vier waren geköpft worden. Vermutlich hatten die Büttel das Grab im 16. oder 17. Jahrhundert extra für sie ausgehoben, vielleicht hatten sie sich eines gemeinschaftlichen Verbrechens schuldig gemacht. Sonderliche Mühe gab sich niemand mit den Leichen, Richtstättenarchäologen sprechen in solchen Fällen von "Verlochung". Die dem Skelettbefund nach zwischen 30 und 35 Jahre alte Frau war in Hockerstellung auf einer Seite abgelegt worden, die Arme entlang dem Körper ausgestreckt, der Schädel etwa dreißig Zentimeter daneben.

Präzise Hiebe: Lesen Sie im zweiten Teil, wie Archäologen anhand von Skeletten die Art der Hinrichtung rekonstruieren

Wohl von hinten oder der Seite kommend hatte eine scharfe Schneide den Kopf zwischen dem dritten und vierten Halswirbel abgeschlagen. Der Scharfrichter stand demnach hinter der Delinquentin, zum Einsatz kam vermutlich ein Richtschwert. Bei einem der Männer griff er aber wohl zum Beil: Es spaltete den vierten Halswirbel. Eine solche Waffe ist noch schwerer zu führen als ein Schwert; vermutlich musste der Verurteilte seinen Kopf auf einen Richtklotz legen.

Auf dem "Galgebakke" bei Slots Bjærgby, ebenfalls auf Seeland, entdeckte der Archäologe Peter Vilhelm Glob im Jahr 1946 vergleichbare Opfer von Schwert und Beil; die Schädel lagen zwischen Füßen oder Schenkeln. Einigen von ihnen war zusätzlich die rechte Hand durch einen Hieb abgetrennt worden, denn Hand- und Fingerknochen lagen isoliert. Dass die abgeschlagenen Köpfe, wie in manchen mittelalterlichen Berichten zu lesen ist, mitunter auch zur Warnung auf Stangen präsentiert wurden, fand der Archäologe an einem Skelett bestätigt: In dem abgeschlagenen Schädel steckte ein langer vierkantiger Eisennagel, der ihn einst auf einem Pfahl fixiert hatte.

So leicht sich das Köpfen nachweisen lässt, so schwer ist es mit dem Hängen - den Quellen zufolge die häufigste Todesstrafe. Ein weiteres Skelett von der Richtstätte Slots Bjærgby könnte solch ein Fall sein. Dem Verurteilten war offenbar der zweite Halswirbel aus dem ersten gezogen worden; der Verdacht liegt nahe, dass er "am Halse aufgehängt wurde, bis der Tod eintrat".

Rädern war grausamste aller Strafen

Ähnlich erging es wohl einem Mann im Schweizer Ort Matten. Direkt unter Galgenresten bargen Wissenschaftler dort ein in zwei Teilen verscharrtes Skelett. Den Oberkörper hatte man in Rückenlage in die Grube gelegt, quer dazu und auf den Bauch gedreht aber das Becken. Ein Bein schien zudem leicht aus der Hüftbeinpfanne ausgedreht und auch im Kniegelenk verdreht. Manche Knochen fehlten. Die Erklärung lautet: Der Mann wurde gehängt und verblieb so lange am Galgen, bis sein Unterleib durch Verwesung von selbst herunterfiel. Bis der Leichnam verscharrt wurde, hatten Tiere Teile davon verschleppt.

Die nach damaligem Verständnis schimpflichsten Verbrechen ahndete die Rechtsprechung mit der wohl grausamsten Hinrichtungsart: dem Rädern. Ausgrabungen der Friedlandburg bei Göttingen im Jahr 1970 brachten in einiger Entfernung der Richtstätte ein Skelett aus dem Mittelalter zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert zu Tage, das an den Bericht des Kreiskonservators Götze erinnert. Ein Gerichtsmediziner bescheinigte mehrere gebrochene Rippen, annähernd symmetrische Brüche beider Unterschenkel, jeweils eines Unterarmknochens sowie eine geborstene Schläfen-Scheitel-Region auf der linken Körperseite.

Ein solcher Befund bestätigt Schilderungen mittelalterlicher Autoren. Beim Rädern warfen die Büttel den Verurteilten auf den Boden und banden seine Gliedmaßen gestreckt an Pflöcke. Unter Arme und Beine legte der Henker anschließend Hölzer. Sodann ließ er mehrmals ein schweres eisenbeschlagenes Speichenrad auf den Unglücklichen fallen, das seine Knochen zerschlug.

Dabei galt es als strafmildernd, wenn der Scharfrichter ihn vorher durch einen Schlag gegen die Schläfe betäubte. Später wurde der geschundene Körper "auf das Rad geflochten", also gebunden, und dann dieses auf einem Pfahl aufgerichtet, den Vögeln zum Fraß. Manch einer war zu diesem Zeitpunkt noch lebendig und bei Bewusstsein.

Arsenal des Schreckens

Schließlich berichten die Texte noch über eine ganze Reihe weiterer Methoden, Delinquenten möglichst qualvoll zu Tode zu bringen, vom Verbrennen und Ertränken über das Pfählen bis hin zum "Entdärmen". Archäologen und Anthropologen müssen hier aber leider abwinken, denn diese Verfahren hinterlassen kaum Spuren am Skelett.

Natürlich würde sich mancher gern eine Statistik der Vollstreckung wünschen, um abzuschätzen, wie viele Unglückliche letztlich auf die eine oder andere Art starben. Doch dergleichen gibt es nicht. Eine Zahl aus dem Jahr 1471 mag aber einen Eindruck geben: Als man damals in Augsburg eine Grube auf der Richtstätte öffnete, fand man 250 Schädel; zu diesem Zeitpunkt hingen noch 32 Diebe am Galgen. Die Abschreckung war allgegenwärtig.

Je größer eine Gemeinde, desto aufwändiger ihre Richtstätte. In Emmenbrücke (Schweiz) grenzte eine etwa zwei Meter hohe Mauer eine Fläche von 1650 Quadratmetern ab. Sie schützte vor den Überschwemmungen der Bäche und hielt Tiere ab. Durch ein Tor gelangten der Verurteilte, die Gerichtsherren, der Geistliche, der Scharfrichter und seine Gehilfen sowie die Schaulustigen in den Rechtsbezirk.

Dort ragte übermannshoch ein aus Schottersteinen und Mörtel gemauerter Galgen auf. Sein Grundriss war der eines gleichschenkligen Dreiecks mit jeweils etwa neun Meter Seitenlänge. Eine Tür führte ins Innere des Gemäuers, auf dessen Ecken die bis zu vier Meter hohen Pfeiler standen. Dieser Galgen wurde um 1560 errichtet und existierte bis ins 19. Jahrhundert.

Unmittelbar nördlich davon entdeckten Archäologen drei Pfostenlöcher. Steine und Ziegel dienten zur Verkeilung und als Widerlager senkrecht aufgerichteter Stangen - dort standen die Räder! Tierknochen von Hund, Rind und Schwein im Bereich der Richtstätte verraten übrigens, dass der Henker gleichzeitig auch Abdecker der Gemeinde war.

Erst der gesellschaftliche Wandel um 1800 beendete die mittelalterliche Rechtspraxis in Mitteleuropa. Im Zuge von Aufklärung und Französischer Revolution veränderten sich die Wertvorstellungen und bahnten einer Rechtsprechung den Weg, die Alternativen zur grausamen Abschreckung fand.

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