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Inka Wie ein Mädchen zum Menschenopfer wurde

Das Inka-Mädchen Tanta Carhua war zehn Jahre alt und kerngesund, als ihr Vater sie 1430 in den Tod schickte. Sie wurde geopfert, um die Götter zu besänftigen. Ihr Tod brachte der eigenen Familie Macht und Anerkennung: 200 Jahre lang regierten die Nachfahren in ihrer Stadt.
Von Christina Schneider

Rund 500 Jahre lag das Mädchen auf dem 6300 Meter hohen Gipfel des Nevado Ampato unter Eis begraben. Dann, im Herbst 1995, entdeckte der Archäologe Johan Reinhard die Leiche in den peruanischen Anden: Heiße Asche des nahen Vulkans Sabancaya hatte die Eisschicht geschmolzen und den mumifizierten Körper freigegeben. Reinhard hatte eine der besterhaltenen Mumien in den Anden entdeckt. Er nannte das Mädchen, das mit etwa 14 Jahren durch einen Schlag gegen die rechte Schläfe ums Leben gekommen war, "Juanita".

Die extreme Höhe des Fundorts und Grabbeigaben wie silberne Broschen, eine federverzierte Tasche mit Kokablättern und kostbare Textilien ließen nur einen Schluss zu: Juanita war ein Menschenopfer der Inka gewesen - wahrscheinlich gestorben, um den Vulkangott Apu Ampato gütig zu stimmen.

Sonst weiß die Forschung nur wenig über Juanita zu berichten - wohl aber über eine ihrer Schicksalsgefährtinnen: Tanta Carhua war zehn Jahre alt, als ihr Vater sie um das Jahr 1430 von der Andenstadt Ocros nach Cuzco schickte. Im Juni und Dezember, den Sonnenwendmonaten, wurden in der Hauptstadt Hunderte Kinder aus allen Teilen des Reichs zum Opfer bestimmt.

Sie hießen Capacochas, "königliche Sünden". Mit ihnen zahlte der Inka für seine Fehltritte, denn wenn der Herrscher die Götter verärgerte, so fürchtete man, könnte ihr Zorn das Imperium vernichten. Nicht alle Kinder waren von ihren Eltern nach Cuzco geschickt worden: Manche waren auch von Priestern ausgewählt worden, die auf der Suche nach Capacochas durch die Dörfer zogen.

Tanta Carhua, so haben Wissenschaftler mithilfe spanischer Chroniken rekonstruiert, wurde auf ihrem Weg von einer Prozession aus Häuptlingen, Priestern und einfachen Indianern begleitet. Das Fest in Cuzco zu Ehren der Capacochas dauerte zehn Tage; Tausende Lamas wurden geschlachtet und die zu opfernden Kinder wie Halbgötter gefeiert.

Die Priester sagten ihnen, dass sie nach ihrem Tod zu Göttern würden.

Dann war der Tag gekommen: Zweimal mussten die Capacochas den Hauptplatz Cuzcos umrunden, wo der Inka zwischen Götterstatuen auf einem goldenen Thron saß. Er begrüßte sie und bat den Sonnengott Inti: "Nimm diese Auserwählten an." Die ersten Kinder wurden noch in der Stadt an huacas, heiligen Schreinen, geopfert, dann formierten sich Prozessionen, die entlang strahlenförmig angelegter Straßen zurück in die Provinzen marschierten. Auf ihren Routen lagen zahlreiche huacas, und an den bedeutendsten wurden die Kinder von den Priestern getötet.

So kehrten manche der Kinder nach langer Reise bis in ihre Heimat zurück, um dort zu sterben. Auch Tanta Carhua. Auf dem Berg Aixa, fünf Kilometer von Ocros entfernt, wurde sie in einer feierlichen Zeremonie lebendig begraben, wahrscheinlich nachdem man sie betrunken gemacht und in Schlaf versetzt hatte.

Nicht nur wichtige Anlässe, auch Kriege und Katastrophen wie Erdbeben oder Epidemien forderten Menschenopfer - zumeist Kinder zwischen 10 und 15 Jahren, immer gesund und schön. Auch Erwachsene, etwa Kriegsgefangene, wurden den Göttern dargebracht. Sie wurden erdrosselt oder lebendig begraben, oder man schnitt ihnen die Kehle durch. Mehrere tausend Menschen, so schätzen Forscher, starben so Jahr für Jahr.

Die Opfer waren den Herrschern auch politisches Mittel: Indem häufig Kinder aus jenen Provinzen zu Gottheiten gemacht wurden, in denen von den Inka im Krieg besiegte Völker siedelten, banden die Könige die unterworfenen Kulturen an die ungeliebte Inka-Religion. Priester sorgten dafür, dass die Geopferten in ihrer Heimat hoch verehrt wurden. Und wer sein Kind freiwillig nach Cuzco schickte, verbesserte seine Stellung in der Heimat.

So auch Tanta Carhuas Vater. Der war ein ehrgeiziger lokaler Führer. Zum Lohn für seine Tochter erhielt er vom Inka mehr Macht. Der Beginn einer erfolgreichen Familiengeschichte: Rund 200 Jahre regierten seine Nachfahren in der Stadt Ocros.

Tanta Carhua geriet nicht in Vergessenheit. Als der spanische Inquisitor Hernández Príncipe um 1620 nach Ocros kam, wurde sie noch immer wie eine Gottheit verehrt. Wer Hilfe brauchte, ging zu einem Schamanen, der mit Tanta Carhua Kontakt aufnahm. Mit verstellter, hoher Stimme gab er dann Ratschläge im Namen des Mädchens.

Hernández Príncipe wollte das nicht dulden. Er stieg auf den Gipfel des Aixa und suchte nach dem Grab Tanta Carhuas. Schließlich fand er ihre Leiche sitzend in einer Grube - um sie verstreut Grabbeigaben wie jene, die Reinhard 350 Jahre später bei Juanita fand. Doch der Inquisitor hatte kein Interesse, den Kult zu bewahren.

Und er zerstörte kurzerhand Tanta Carhuas Grab.