Verknöcherte Wissenschaften

Skandal im Skelettgewölbe der Forschung: Ein Frankfurter Anthropologieprofessor wird der Unterschlagung verdächtigt. Bewiesen ist indes nur, dass er Schädel falsch datierte – und dass der Lehrbetrieb trotz zahlreicher Hinweise jahrelang schwieg

Gar nicht neu ist auch die Diskussion um den „Schädel von Kelsterbach“

VON GISELA SONNENBURG

An sich ist die Anthropologie – also die Wissenschaft vom Menschen und seiner Entwicklung – ein ruhiges Fach. Zu ruhig vielleicht. Auch die ihr benachbarte Archäologie – zuständig fürs Ausgraben und Einordnen menschlicher Hinterlassenschaften – haut nur selten auf den Putz. Entsprechend verläuft die Kommunikation beider: gemächlich, diskret, auf Projekte beschränkt.

Wäre es anders, hätte sich die Wissenschaft den Skandal um den Frankfurter Anthropologen Reiner Protsch von Zieten vielleicht erspart. Denn die Beweise dafür, dass der Universitätsprofessor Schädelfunde reihenweise falsch einschätzte – und zwar durchgängig als viel zu alt und somit als viel zu wertvoll – sind keineswegs neu. Sie wurden, anders als bisher von den Medien suggeriert, schon vor drei Jahren veröffentlicht.

Bereits 2001 beschrieb der Archäologe Thomas Terberger von der Universität Greifswald gemeinsam mit Martin Street, Neuwied, und Günter Bräuer, Uni Hamburg, im Archäologischen Korrespondenzblatt, dass der vermeintliche „Neandertaler von Hahnöfersand“, in Hamburg museal vermarktet, erstens kein Neandertaler und zweitens statt über 36.000 Jahre nur etwa 7.500 Jahre alt sei – ein ganz normaler neuzeitlicher Mensch also.

Zum Beweis konnte das Forschertrio Messungen anführen: Zwei verschiedene Schädelproben des Exponats wurden in Oxford mittels Radiokarbon-Untersuchung kalabriert, mit eindeutigem Ergebnis. Solche Zählungen der verbliebenen radioaktiven Kohlenstoff-14-Teilchen dauern Monate: Schon 1999 hatte Terberger Zweifel an Protschs generöser Asbach-Uralt-Schätzung.

Weil auch andere Datierungen des in der verschwiegenen Anthropologenszene wie ein Hallodri wirkenden Protsch falsch schienen, vermutete Terberger zunächst einen „systematischen Fehler der nicht dauerhaft in Betrieb genommenen Frankfurter Anlage“. Er empfahl schon 2001, „die in den späten 70er- und 80er-Jahren in Frankfurt gemessenen Werte“ sollten „ungeprüft keine Verwendung mehr in der wissenschaftlichen Argumentation finden“.

Die Warnung wurde geflissentlich überhört. Auch die Frankfurter Goethe-Universität, die Protsch seit 1973 beschäftigt, vermied eine rechtzeitige Klärung. Dabei soll Anfang der 90er-Jahre auch der heute das Kölner C-14-Labor leitende Bernhard Weninger Protschs Überprüfung verlangt haben.

Gar nicht neu ist auch die Diskussion um den „Schädel von Kelsterbach“. Der Knochen einer 50-Jährigen aus Hessen galt, ebenso wie der „Hamburger Neandertaler“, dank der Falschdatierungen von Protsch als Beleg für die These, dass sich die Spezies Neandertaler und Homo sapiens mischten: In der Altersspanne von 30.000 bis 40.000 Jahren vermuten die Verfechter der Mischlingstheorie die Vermengung der Arten, wobei aber Funde aus dieser Zeit rar sind.

Terberger kontaktierte Protsch Ende der 90er, um den Kelsterbach-Schädel zu untersuchen. „Erst wirkte er sehr entgegenkommend, dann kam plötzlich nichts mehr“, erinnert sich der damalige Jungforscher ans professorale Gebaren. Bis heute überprüfte niemand das Alter des Schädels – Protsch rückte ihn nämlich nicht heraus.

Derzeit ist das gute Stück sogar verschollen: Am 30. Juli vermeldete die Frankfurter Uni, der Kelsterbacher und zwei weitere Schädel seien verschwunden. Die Mitteilung ging an die Frankfurter Staatsanwaltschaft, wo, ebenfalls auf eine Anzeige der Uni hin, seit April gegen Protsch ermittelt wird: wegen der versuchten Unterschlagung von Schimpansenschädeln, die Protsch 1975 gekauft hatte und nun veräußern wollte. Deshalb ist er übrigens auch suspendiert.

Die Gretchenfrage: Hatte er die Tierreste für das Institut gekauft, sind sie also Eigentum der Uni, oder bezahlte der Professor sie aus eigener Tasche? Eine gewisse Vermengung von Amt und Person ist den sammelnden Wissenschaften allerdings traditionell zu eigen.

So gilt: „Alles ist offen“, wie Brita Schemmann, Pressereferentin der Goethe-Uni, sagt. Sie setzt auf die „Selbstreinigung“ der Universität, denn nach Abschluss der rechtlichen Verfahren erwartet den umstrittenen Prof noch eine interne Überprüfung. Aber: Eine Hausdurchsuchung bei Protsch fand nach dem 30. Juli nicht statt. Die Chance, den Kelsterbach-Schädel dort zu finden, wurde somit vertan – ebenso wie ein mögliches Indiz für Protschs Unschuld.

Wer ihr den Kelsterbacher Verlust mitteilte, verschweigt die Uni-Leitung hartnäckig. So soll Zufall sein, dass sich jetzt Staatsanwaltschaft und Fachwelt gleichermaßen für Protsch interessieren, nachdem jahrelang Scheuklappen angesagt waren. Möglich ist daher auch folgendes Modell: Einigung statt Aufklärung, Deckelei statt Transparenz, Mauschelei statt Offenlegung.