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Künstlerischer Neandertaler Kreativer Big Bang im Ländle

Ist das Schwabenland die Wiege der Kunst? Nach Ausgrabungsfunden scheint sicher: Die ältesten plastischen Kunstwerke der Welt stammen von der Schwäbischen Alb. Archäologen jedoch wollen vom Kunst-Neandertaler nichts wissen. Bestenfalls ästhetisch sei der Jäger und Sammler gewesen.
Von Martin Reischke

Der Beruf des Künstlers war unter den Neandertalern wohl eher ungewöhnlich. Sie jagten wilde Tiere und sammelten Beeren - da blieb wenig Zeit für Kreativität. "Es gibt Leute, die zur Ehrenrettung der Neandertaler einfach alles zusammentragen", sagt Harald Floss vom Tübinger Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters. Aber die Wissenschaft beweise das Gegenteil: "Bisher entdeckte Skulpturen, Gravierungen und Wandmalereien werden zumindest in Europa mit dem anatomisch modernen Menschen assoziiert."

Die Debatte um die Kunstfertigkeit der Neandertaler wurde neu entfacht, als Tübinger Wissenschaftler bei Ausgrabungen auf der Schwäbischen Alb im vergangenen Jahr neue Funde zu Tage förderten: eine kaum drei Zentimeter hohe Skulptur aus Mammutelfenbein sowie eine Vogelskulptur, die jetzt im Jahresbericht "Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg 2002" vorgestellt wurden.

Untersuchungen ergaben jedoch, dass die Skulpturen den modernen Menschen zuzuordnen sind. Sie waren in Bodenschichten gefunden wurden, die keine Fossilien der Neanderthaler enthielten. Der Leiter des Tübinger Instituts, Nicholas Conard, glaubt, die Funde könnten sogar älter sein als der auf rund 32.000 Jahre geschätzte Löwenmensch, der schon vor etlichen Jahrzehnten auf der Schwäbischen Alb ausgegraben wurde. Der Grund: Im vergangenen Sommer hatten die Forscher in tiefer liegenden Sedimentsschichten gegraben, die auf ein älteres Entstehungsdatum der Kunstwerke schließen lassen.

"Innovation schon vor Mercedes Benz"

So oder so: Sicher ist, dass die ältesten Kunstwerke der Welt von der Schwäbischen Alb stammen. "Innovation im Schwabenlande vor Mercedes-Benz", kommentiert Floss spöttisch. Doch wie kam es zum Ausbruch der Kreativität, der auch als "kreativer Big Bang" bekannt ist? Für Floss ist klar, dass die frühesten Kunstwerke erst entstanden sind, als der anatomisch moderne Mensch ins Spiel kam. Zwar haben Neandertaler und moderne Menschen nach Meinung vieler Forscher eine Zeitlang parallel existiert. "Aber warum sollte der Neandertaler erst dann künstlerisch werden, als der anatomisch moderne Mensch auf den Plan trat?", fragt Floss.

Trotz der zahlreichen Funde bewegen sich die Archäologen allerdings auf dünnem Eis. Niemand kann mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, ob die Neandertaler nicht doch kreativer waren als allgemein angenommen. Bekannt ist zumindest, dass sie Farbe kannten und nutzten. "Doch selbst wenn sie beispielsweise ihre Körper aufwändig bemalt hätten, wäre das heute sicherlich nicht mehr erhalten", sagt Bärbel Auffermann, stellvertretende Leiterin des Neanderthalmuseums im nordrhein-westfälischen Mettmann.

Neandertaler kannten Farbe - aber Kunst?

Auch andere kreative Arbeiten - so sie denn überhaupt entstanden sind - sind der Nachwelt wohl auf ewig verloren gegangen. "Wenn damals schon Elfenbein verarbeitet wurde, gab es sicherlich auch Holzschnitzereien", sagt Kurt Wehrberger, Leiter der archäologischen Sammlung im Ulmer Museum. Holzarbeiten, vor mehr als 30.000 Jahren gefertigt, wären heute aber kaum noch als Kunstwerk zu identifizieren.

Was aber ist überhaupt ein Kunstwerk? "Eine Figur, mit der ich nicht arbeiten kann", meint Wehrberger. Der Löwenmensch sei dafür das beste Beispiel: Halb Mensch, halb Löwe - "eine Figur, die es nicht gibt, also ein kreativer Prozess."

Manche Werkzeuge der Neandertaler ließen aber durchaus schon so etwas wie ästhetisches Empfinden erkennen, sagt Auffermann. Warum sonst hätten die Neandertaler mit Faustkeilen gearbeitet, die mit einem Fossil in der Mitte geschmückt waren? Auch wenn die Funktionalität im Vordergrund stand - selbst die Neandertaler schienen auf Kunst und Ästhetik nicht vollkommen zu verzichten.

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