Burg Binsfeld - Die Lederfunde

Das reichhaltige Fundmaterial der Ausgrabungen auf dem Gelände der Burg Binsfeld belegt, daß der Burggraben zu allen Zeiten wohl auch als Abfalldeponie genutzt wurde. Anfänglich wurde er allerdings offensichtlich nur gelegentlich und nicht grundsätzlich zur Müllentsorgung verwendet. Später boten dann mehrfache Bauschuttauftragungen im Bereich des niedergelegten Ostflügels günstige Gelegenheit, sich immer wieder gleichzeitig größerer Mengen von Hausmüll zu entledigen. Der Graben wurde im Laufe der Zeit verfüllt und die Halde begann oberirdisch zu wachsen; dieses Anwachsen beschleunigte sich, da in jüngerer Zeit die Abfallmenge immer größere Dimensionen annahm. Das schließlich auf etwa 4 m Höhe angewachsene Paket vergrößerte zu Anfang des 20. Jhs. den Burghof um fast 20 %. Allein Leder geriet in älteren Zeiten häufiger in den Abfall als in jüngeren: von den 60 im allgemeinen gut erhaltenen Lederfunden stammen 25% aus der ältesten und nur noch etwa 2% aus den jüngsten Schichten.

Dass im Vergleich zu den übrigen Fundgattungen nur so wenige Lederreste aufgefunden wurden, mag einerseits durch die Langlebigkeit von Leder, andererseits auch durch die universale Wiederverwendbarkeit des Materials erklärt werden können; Eigenschaften, die, gepaart mit seinem relativ hohen Handelspreis, dem Leder immer schon eine besondere Stellung unter den Gebrauchsmaterialien verliehen. Dies ist auch dadurch belegt, daß die eindeutig durch Gebrauch abgenutzten Fragmente fast immer als Einzelfunde im Uferschlamm des Burggrabens und nur in einem Fall im Zusammenhang mit anderen, häufigeren Abfällen im Schutt eingelagert aufgefunden wurden. Daß es sich bei den Lederfunden, neben einigen abgerissenen Kleinteilen, fast ausschließlich um Überreste von Fußbekleidungen und hier um verschlissene Lauf- und Innensohlen, Absatzfragmente und Fersenkappen handelt – also typische Reparaturabfälle – zeigt, daß das Schuhwerk der Burgbewohner offensichtlich immer wieder vor Ort geflickt wurde. Wenn also nicht einer der Bediensteten des Schuhflickens kundig war, muß man davon ausgehen, daß die anfallenden Reparaturen von freien Flickschustern ausgeführt wurden. Im Gegensatz zu den an ihre Werkstatt gebundenen Schuhmachern boten diese nämlich den Service vor Ort.

Auf der anderen Seite hängt es sicher eng mit dem im 16. Jahrhundert zum ersten Mal auftauchenden Absatz zusammen, daß nicht nur die Reparaturaufträge für Flickschuster, sondern auch die Menge der aufgefundenen Sohlenfragmente im Burggraben im Gegensatz zum allgemein anwachsenden Abfallberg im Laufe der Jahrhunderte immer mehr abnimmt. Mit der Perfektion dieser Konstruktion gewann der Schuh nämlich zunehmend an Robustheit und Lebensdauer.

Ein unmittelbar über der Grabensohle aufgefundenes vierlagiges Absatzfragment bezeugt, dass sich der Absatz aus einer Flickstelle an der Ferse entwickelt hat und somit offenbar eine technologische Entwicklung der ständischen Schuhmacher war. Es handelt sich um den Rest eines Schuhes eines Burgbewohners aus dem 16. Jahrhundert. Zum einen zeigen die Abnutzungsspuren der beiden obersten Lagen, daß jede für sich an der Ferse bis zur Beschädigung der Fersennaht abgelaufen wurde Abb.109: Lederabsatz (Abb. 109). Zum anderen werden die einzelnen Lagen von der Fuß- zur Laufseite immer größer. Die oberste Lage nimmt etwa die halbe Fläche des endgültigen Absatzes ein, ist an der zur Fußspitze zeigenden Seite schräg abgeschnitten und deckt den gesamten hinteren Bereich der Ferse ab. Die zweite Lage reicht etwa über zwei Drittel der Absatzfläche, überdeckt die vordere Quernaht der ersten Lage und ist ebenfalls vorne schräg abgeschnitten. Erst die dritte Lage hat die endgültige Größe, die typische, vorne rundlich ausgeschnittene Absatzform und zeigt zudem keine Abnutzungsspuren an der hinteren Kante. Diese dritte Lage muß also gleichzeitig mit mehreren weiteren Lagen auf die beiden bereits vorhandenen aufgenäht worden sein. Schließlich zeigen auch die Nadelstiche, daß die oberen Lagen nacheinander aufgenäht wurden. So waren z.B. die beiden obersten Lagen rundum angenäht und den beiden unteren Lagen fehlt die vordere Quernaht. Die zweite Lage hatte keine Nadelstiche im Bereich der Quernaht der ersten Lage. Oxidspuren sowie mehrere rechteckige Löcher in den einzelnen Lagen weisen darauf hin, daß der Absatz mit viereckigen Nägeln beschlagen war. Weiterhin zeigt die nur sehr leichte Beschädigung der obersten Lage im Bereich der Nagelung, daß zumindest diese von den Nägeln nicht mehr durchdrungen worden ist.

Selbstverständlich läßt sich nicht klären, ob der Träger des Schuhs, als er ihn von der Reparatur zurückbekam, von der neuen Flicklösung des Flickschusters überrascht wurde und sie nach kurzer Gewöhnung als angenehm empfand oder ob er den Handwerker, einem bereits bestehenden Modetrend folgend, selbst mit dem Anbringen eines Absatzes beauftragt hatte. Daß aber letztendlich eher der Schuhmacher als der nach künstlicher Erhöhung strebende Kunde der Initiator dieses technologischen Fortschrittes war, erscheint doch wahrscheinlich. Wenn auch dieser Nebeneffekt der Erhöhung von einigen Bevölkerungsschichten aufgegriffen wurde und in geradezu lebensgefährlich hohen Absätzen seine Ausführung fand, so war doch der eigentliche Grund für die Einführung des Absatzes ein anderer. Erstens ist der Fersenbereich eines Schuhs meist der stärksten Abnutzung unterworfen und somit besonders häufig reparaturbedürftig. Wer wußte dies wohl besser als der Flickschuster, der ständig mit diesem Problem konfrontiert wurde. Diese immer wieder notwendig werdende Reparatur stellte natürlich, neben der Herstellung von Schuhen, eine weitere, sichere Einnahmequelle dar.

Zweitens entstand in der frühen Neuzeit für die Schuhmacherinnung das Problem, daß zum Ärger der ortsfesten Schuhmacher immer mehr ihrer Aufträge und insbesondere die Flickarbeiten zunehmend von freien Flickschustern ausgeführt wurden. Vor diesem Hintergrund scheint es plausibel, daß die Schuhmacher parallel zur Forderung nach gesetzlicher Regelung ihres Schuhherstellungsmonopols durch die Einführung des Absatzes versuchten, den unliebsamen Konkurrenten die Aufträge zu entziehen. Denn plötzlich war die Laufsohle – im Ballenbereich durch Nagelung und an der Ferse durch Absatz und Nagelung geschützt – erst reparaturbedürftig, wenn der Schuh nahezu verschlissen, seinen Besitzer möglicherweise überlebt hatte oder ganz einfach aus der immer öfter wechselnden Mode gekommen war. Häufiger modischer Wechsel des Schuhwerks kam zumindest bei den betuchteren Bürger vor, die es sich zudem leisten konnten, mehrere Sätze Schuhe gleichzeitig zu besitzen; Schuhpaare nach unserem heutigen Verständnis sind eine moderne Erfindung.

Von den Lederfragmenten, die einen groben Querschnitt durch die Schuhmoden der letzten 400 Jahre zeigen, ist neben diversen Schuh- und Pantoffelsohlen, einer Ristlasche, Absätzen (einer davon mit Sporenhalterungen und viereckigen Hufnägeln beschlagen), Fersenkappen, einem Gürtelende und einem vierlagigen Wamsfragment vor allem noch ein mit nahezu allen Einzelteilen in der oberen Grabenschlammschicht aufgefundener, mit eisernen Ringösen besetzter Schnürstiefel jüngeren Datums zu erwähnen. Die vermutlich aus den vierzieger Jahren des 20. Jahrhunderts stammende, relativ einfach gehaltene, schmale Stiefelette mit halbhohem Schaft fällt wegen ihrer ungewöhnlichen Verarbeitung auf. Das halbrund ausgeschnittene Vorderblatt ist an der Fußspitze durchgelaufen und mit feinen Strichpunzierungen im Bereich der Naht versehen. Die Zunge des Schuhs ist aus Gummi und die mehrteilige Sohle ist mit kleinen Holznägeln in sich selbst und mit dem daran angehefteten Oberschuh verbunden, statt mit Garn vernäht, eine offenbar so haltbare Konstruktion, daß der Schuh als Ganzes länger hielt als das Material im Bereich der Fußspitze, die in eindrucksvoller Weise belegt, mit welchem Erfindungsreichtum die Schuhmacher fehlendes Material in Mangelzeiten zu ersetzen verstanden.

Norbert Bartz, 1992, Veröffentlicht in: Archäologie im Rheinland 1992, Seiten 126-127





R. FORRER, Archäologisches zur Geschichte des Schuhs aller Zeiten (Schönenwerd 1942)
S.DURIAN-RESS, Schuhe – Vom späten Mittelalter bis zur Gegenwart (München 1991)