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Von der Antike bis in die Gegenwart ein Ort der Verehrung Die Forschungsstelle Asia Minor der Universität Münster untersucht seit mehr als 20 Jahren die antike Stadt Doliche im Südosten der Türkei

Viele der archäologischen Funde sind eine Überraschung. Seit 1997 erforschen Altertumswissenschaftler der Forschungsstelle Asia Minor im Seminar für Alte Geschichte der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) die antike Stadt Doliche. Die archäologischen Hinterlassenschaften des Ortes im Südosten der Türkei erzählen zahlreiche bislang unbekannte Geschichten über die historische, religiöse und kulturelle Entwicklung zwischen Taurusgebirge und nordsyrischer Hochebene vom frühen 1. Jahrtausend vor Christus bis in die Kreuzfahrerzeit des 11. und 12. Jahrhunderts nach Christus hinein. Althistoriker und Grabungsleiter Prof. Dr. Engelbert Winter ist seit Beginn an den Untersuchungen vor Ort beteiligt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert seit vielen Jahren die wissenschaftliche Arbeit.

Wie alles begann: Vom fünfköpfigen Team zum Grabungsprojekt mit 100 Beteiligten

War es zu Beginn nur eine Gruppe von vier bis fünf Mitstreiterinnen und Mitstreitern, die wenige Wochen vor Ort arbeiteten, waren an der letzten Grabungskampagne fast 100 Personen beteiligt. Drei studentische Hilfskräfte und fünf wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind aktuell im Doliche-Projekt der Forschungsstelle Asia Minor beschäftigt und in die Dokumentation und wissenschaftliche Aufarbeitung der Ergebnisse eingebunden. „Wenn ich an die 22-jährige Grabungsgeschichte zurückdenke, sind die Herausforderungen stetig gewachsen. Beispielsweise der Ausbau der Infrastruktur vor Ort: der Bau eines eigenen Grabungshauses und die damit verbundenen finanziellen Verpflichtungen waren stets eine große Belastung“, erläutert Engelbert Winter. „Letztlich sind es dann aber immer wieder diese besonderen emotionalen Momente während der Grabungen, wenn jedes Jahr überraschende Funde von bemerkenswerter wissenschaftlicher Relevanz ans Tageslicht kommen. Das motiviert das gesamte Team, den nächsten Schritt zu wagen und die strukturelle Weiterentwicklung voranzutreiben.“

Mit der Entdeckung zweier Mithräen am Westhang des Siedlungshügels von Doliche, des Keber Tepe, ist den Wissenschaftlern 1997 und 1998 ein religionshistorisch bedeutsamer Fund gelungen: Die beiden Höhlen waren Kultstätten für den römischen Mysteriengott Mithras und gehörten zu den größten dieser Art in der gesamten Mittelmeerwelt. „Durch die bis zum Jahr 2000 andauernden Grabungen in den Mithräen gewannen wir wichtige Erkenntnisse über ihre Nutzung im Zeitraum vom 1. bis zum 3. Jahrhundert nach Christus. Die Existenz zweier nebeneinander liegender Mithräen weist auf eine große Anhängerschaft der Mithrasmysterien und die Bedeutung dieses Kultes in Doliche hin”, berichtet Engelbert Winter.

Der Kult und das Heiligtum Iuppiter Dolichenus

Bekannt ist Doliche vor allem als Heimat des mächtigen Himmelsgottes Iuppiter Dolichenus, dessen Kult im 2. und 3. Jahrhundert nach Christus zu den wichtigsten im Römischen Reich zählte. Vom Dülük Baba Tepesi aus verbreitete sich sein Kult bis nach Nordafrika, an die Donau und den Rhein sowie bis in den Norden Englands. Dank einer offiziellen Grabungsgenehmigung seitens der türkischen Antikendirektion wurde es seit 2001 für das Team von Engelbert Winter erstmals möglich, auf dem rund drei Kilometer südlich der antiken Stadt gelegenen Dülük Baba Tepesi das bis dahin weitestgehend unbekannte Zentralheiligtum des Iuppiter Dolichenus zu erforschen. „Das war ein absoluter Glücksfall mit enormer Bedeutung: Offensichtlich handelt es sich dabei um einen der ganz wenigen Orte im südostanatolischen Raum, an dem sich Kulthandlungen vom frühen 1. Jahrtausend vor Christus bis in die christlich geprägte Spätantike und das islamische Mittelalter hinein kontinuierlich nachweisen lassen”, bemerkt Engelbert Winter. „Je weiter wir unsere Grabungen auf dem Berg fortsetzten, desto mehr Fragen zur Kultkontinuität und Religionsgeschichte des gesamten antiken Vorderen Orients konnten wir beantworten.”

Die Forscher legten bis 2015 Funde aus allen Epochen der 2.000-jährigen Geschichte des Kultplatzes frei, die deutlich machen, dass es sich beim Dülük Baba Tepesi um einen zentralen Erinnerungsort für die religiöse Entwicklung und kulturelle Vielgestaltigkeit im Nahen Osten handelt. Nach dem Ende des heidnischen Kultes wurde in byzantinischer Zeit in den Ruinen des antiken Heiligtums das Kloster des Mar Salomon errichtet, das zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert nach Christus seine Blütezeit erlebte. In osmanischer Zeit errichtete man auf dem Gipfelplateau des Berges eine Türbe, das Grab eines muslimischen heiligen Mannes. „So blieb der Berg von der Antike bis in die Gegenwart ein Ort der Verehrung“, resümiert Engelbert Winter.

Im Grabungscamp – auf den Bildern ist der Dülük Baba Tepesi zu sehen – arbeiten die Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen Hand in Hand. Fotos: WWU - Forschungsstelle Asia Minor / Forschungsstelle Asia Minor/Peter Jülich

Einblicke in das Stadtleben im antiken Syrien

Seit 2015 steht die antike Stadt im Zentrum der Untersuchungen. Dabei erforschen Archäologen, Historiker, Architekten, Bauforscher, Restauratoren, Anthropologen und Archäobotaniker, Geodäten, Geophysiker und Geoinformatiker die Entwicklung und den Wandel der Stadt. „Wir möchten mehr über das tägliche Leben der damaligen Bewohner erfahren und nachvollziehen, welche Auswirkungen die Veränderungen der politischen, religiösen und ökonomischen Rahmenbedingungen auf die Stadt hatten“, erklärt der 60-jährige Grabungsleiter. Dabei stehen den Wissenschaftlern mittlerweile innovative Forschungsmethoden zur Verfügung. „Im Gegensatz zu den 1990er-Jahren, als wir mit den Grabungen in der Türkei begannen, nutzen wir heute Drohnen zur Dokumentation unserer Grabungsflächen oder dreidimensionale Visualisierungen“, sagt Engelbert Winter.

Tausende von kleinen Artefakten wie Steinabschläge oder Handbeile zeigen, dass es sich bei diesem Ort um einen der ältesten bekannten menschlichen Siedlungsplätze in Anatolien handelt, an dem sich bereits in der Altsteinzeit, zwischen 400.000 und 300.000 vor Christus, Menschen aufhielten. „In Zukunft möchten wir auch diese älteste Epoche der Menschheitsgeschichte in unsere Untersuchungen integrieren", erläutert Engelbert Winter. In einer ganz anderen Epoche, im 4. Jahrhundert nach Christus, hatte sich in Doliche wie im gesamten Römischen Reich das Christentum durchgesetzt und die Stadt wurde Sitz eines Bischofs. Die Ausgrabungen der jüngsten Zeit haben am Südhang des antiken Siedlungshügels, des Keber Tepe, Teile einer großen frühchristlichen Basilika freigelegt. Ein prächtiges Mosaik, das den Boden der dreischiffigen Kirche schmückt, datiert deren Errichtung in das späte 4. Jahrhundert nach Christus. Zudem konnte ein großer Baukomplex auf dem Ostplateau des Keber Tepe als Thermenanlage der römischen Kaiserzeit identifiziert werden. Mit rund 2.000 Quadratmetern war sie von beachtlicher Größe. Das mit wertvollen Mosaiken ausgestattete Bad entstand im 2. Jahrhundert nach Christus. „Es sind nur wenige Badeanlagen dieser Zeit aus Südostanatolien und Syrien bekannt, daher ist diese Entdeckung von besonderem Wert und wird unsere Kenntnisse über das antike Stadtleben in Doliche erheblich erweitern“, betont Engelbert Winter.

Darstellungen des Soldatengottes Iuppiter Dolichenus

Die beiden Darstellungen zeigen den Gott Iuppiter Dolichenus. Fotos: WWU - Forschungsstelle Asia Minor

Diese archäologischen Funde waren eine Überraschung: die Basaltstele mit der ersten römerzeitlichen Darstellung des Soldatengottes Iuppiter Dolichenus aus seiner Heimat Doliche – hier noch stark altorientalisch dargestellt (links) – der im 2. Jahrhundert nach Christus zu einer der bedeutendsten Gottheiten des Römischen Reichs wurde. Und die römerzeitliche Bronzefigur, die die Gottheit in römischer Militärtracht, Hosen und phrygischer Mütze, zeigt – nun in westlicher Manier (rechts). Basalt-Relief und Bronze zeigen im Vergleich die verschiedenen Facetten des Kultes und die Integration divergierender religiöser Systeme in römischer Zeit: Iuppiter Dolichenus wuchs von einer Lokal- zur Reichsreligion. Ein Abguss der Basaltstele ist im Archäologischen Museum der WWU ausgestellt.

Altorientalische Kleinfunde

Bei den Grabungen entdeckten die Forscher viele kleine Bronzefiguren wie Stiere und Hirsche aus dem frühen 1. Jahrtausend vor Christus. Fotos: WWU - Forschungsstelle Asia Minor/Peter Jülich

Bei den Ausgrabungen im Heiligtum entdeckten die Forscher gewaltige Mengen von Asche, die hunderttausende Knochenfragmente enthielten. Dabei handelt es sich um die Rückstände von Brandopfern zu Ehren des Gottes von Doliche. Die wissenschaftliche Untersuchung der Knochen zeigte, dass bei den Feierlichkeiten vor allem junge Schafe geschlachtet wurden. Die Besucher des Heiligtums brachten dem Gott jedoch nicht nur Tieropfer dar, sondern weihten ihm auch eine große Zahl wertvoller Gegenstände. Viele davon kamen bei den Ausgrabungen zutage, darunter diese kleinen Bronzefiguren aus dem frühen 1. Jahrtausend vor Christus. Stier und Hirsch sind kraftvolle Tiere, die sinnbildlich für die Macht der Gottheiten stehen konnten. Daneben wurden importierte Gefäße, Fibeln, und Terrakottafiguren entdeckt. Die weitaus größte Gruppe von Opfergaben sind jedoch Siegel und Schmuckperlen.

Siegel und Schmuckperlen

Überraschende Funde: Im Heiligtum des Iuppiter Dolichenus wurden rund 600 Roll- und Stempelsiegel und mehr als 3.500 Schmuckperlen ausgegraben. Foto: Forschungsstelle Asia Minor

Im Zuge der Ausgrabungen im Heiligtum des Iuppiter Dolichenus auf dem Dülük Baba Tepesi wurden unerwartet rund 600 Roll- und vor allem Stempelsiegel sowie mehr als 3.500 Schmuckperlen gefunden. Neben wenigen Stücken, die aufgrund stilistischer Gründe in das 3. und 2. Jahrtausend vor Christus datiert werden können, und wahrscheinlich von Generation zu Generation als Antiquitäten bis in das erste Jahrtausend vor Christus weitergegeben wurden, handelt es sich bei der Mehrheit der Funde um Stempelsiegel, die in eine Zeit von der Mitte des 6. bis in die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts vor Christus datieren. Neben Siegeln aus unterschiedlichsten Halbedelsteinen belegt eine große Menge von Stempeln, die aus verschiedenfarbigem Glas hergestellt wurden, nicht nur eine intensive Nutzung dieses Werkstoffes. Naturwissenschaftliche Untersuchungen erlauben auch Rückschlüsse auf den Herstellungsprozess.

Ausblick: Was gibt es zukünftig zu erforschen?

Aktuell erarbeiten die Wissenschaftler den Antrag für die nächste Grabungskampagne im Sommer 2020, um die offizielle Grabungsgenehmigung zu erlangen, die jährlich durch die türkische Antikendirektion vergeben wird. „Wir planen die Arbeiten im Stadtgebiet von Doliche mit einer Gruppe von rund 70 Wissenschaftlern sowie Studierenden durchzuführen“, erklärt Engelbert Winter. „Angesichts der bisherigen, für viele Fragestellungen der Geschichte und Kultur des Nahen Ostens aussagekräftigen Ergebnisse bin ich sehr zuversichtlich, dass wir die nun schon mehr als 20-jährige Grabungsgeschichte an diesem Ort noch lange fortsetzen werden – hoffentlich durch eine jüngere Generation auch über das Ende meiner Dienstzeit hinaus.“

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Redaktion: Stabsstelle Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit der Universität Münster, Kathrin Kottke, Kathrin Nolte und Sophie Pieper

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