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Wer hat's erfunden?

Im Exzellenzcluster TOPOI erforschen Wissenschaftler der Freien Universität die Ursprünge der Mathematik

22.10.2012

Gruppenbild mit Mathematikern: Auf dem Fresko "Die Schüler von Athen", das der Maler Raffael 1510 bis 1511 für Papst Julius II. anfertigte, finden sich gleich mehrere große Denker und Mathematiker.

Gruppenbild mit Mathematikern: Auf dem Fresko "Die Schüler von Athen", das der Maler Raffael 1510 bis 1511 für Papst Julius II. anfertigte, finden sich gleich mehrere große Denker und Mathematiker.
Bildquelle: Wikipedia/Public domain commons.wikimedia.org/wiki/File%3ASanzio_01.jpg

Archimedes, Pythagoras und Euklid: Gemeinhin gelten die Griechen als die Erfinder der modernen Mathematik. Doch woher hatte die Antike ihr Verständnis für Zahlen? Wissenschaftler der Freien Universität erforschen den Ursprung der Kulturtechnik, die uns heute in die Lage versetzt, das Wissen der Welt in einem Smartphone mit uns zu führen oder mit einer Sonde auf dem Mars zu landen. Sie stoßen dabei auf mutmaßliche Menschenopfer und Algorithmen, die noch älter sind als das Wissen der Griechen.

Im dreizehnten Jahr seiner Ausgrabungen in der Nähe des südmährischen Dorfes Dolní Vestonice stößt der tschechische Paläontologe Karel Absolon auf einen unscheinbaren Knochen: Wenige Zentimeter nur misst die Speiche des jungen Wolfes, der hier vor etwa 25.000 bis 30.000 Jahren in einer altsteinzeitlichen Siedlung von Mammutjägern zerlegt worden ist. Eigentlich ein Knochen, wie er hier schon hundertfach gefunden wurde. Und doch ist er eine kleine Sensation. Deutlich sichtbar sind darauf in Fünfergruppen Kerben eingeritzt. Karel Absolon ist sich 1936 schnell sicher: Er hat das wohl älteste Zeugnis menschlichen Zählens und Messens entdeckt.

Dass das Zählen kleiner Mengen eine Fähigkeit ist, die auch Elefanten, Affen oder Hunde beherrschen, beschrieben Ethnologen schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Muttertiere geben durch eindeutige Zeichen zu erkennen, dass sie wissen, dass eines oder mehrere ihrer Jungen ihnen entwendet worden sind. Und auch bei Vögeln gab es bemerkenswerte Entdeckungen: Als ein Schlossherr einen Raben töten wollte, der sein Nest im Wachturm seines Anwesens gebaut hatte, floh der Rabe aus seinem Nest. Auch eine List schlug fehl: Der Schlossherr ließ zwei seiner Begleiter in den Turm ein, von denen sich einer nach wenigen Minuten zurückzog, während der andere im Turm dem Raben auflauerte. Das Tier ließ sich nicht verwirren und wartete so lange, bis sein Nistplatz wieder sicher war. Erst als fünf Männer den Turm betraten, war es dem Raben nicht mehr möglich, die Menge der Menschen abzuschätzen und er tappte in die Falle: Vier Männer verließen den Turm, der zurückgebliebene schließlich konnte den Raben erlegen.

Der Mensch hingegen, das beweist der Fund Absolons, war früh in der Lage, nicht nur große Mengen ähnlicher Objekte wahrzunehmen, sondern sie auch zu erfassen. Aber warum ritzten unsere Vorfahren Zahlensymbole in einen Tierknochen? Und wann entdeckte der Mensch, dass sich Dinge buchstäblich an einer Hand abzählen ließen? „Über die Anfänge des Zählens wissen wir wenig und können oft nur spekulieren“, sagt Michael Meyer, Professor für Prähistorische Archäologie an der Freien Universität. „Es gibt einfach zu wenige Quellen, anhand derer sich die Art des Denkens unserer Vorfahren nachweisen ließe.“ Höhlenmalereien zeigen, dass der Mensch schon vor Tausenden von Jahren sehr genau seine Umwelt beobachtet hat. Jagdszenen zeigen Tiere in Bewegung; die vorzeitlichen Künstler haben einen erstaunlichen Sinn für Proportionen. „Eine solche Beobachtungsgabe ist Grundvoraussetzung für eine Kulturleistung wie das Zählen“, sagt Meyer. „Aber ob die Höhlenbewohner eine abstrakte Zähltechnik beherrschten, lässt sich wissenschaftlich seriös nicht mehr überprüfen.“

Die vergleichsweise gute Beobachtungsgabe der Höhlenmaler gilt als Voraussetzung für weitere Leistungen wie das Zählen.

Die vergleichsweise gute Beobachtungsgabe der Höhlenmaler gilt als Voraussetzung für weitere Leistungen wie das Zählen.
Bildquelle: istockphoto/Pgiam

Wie weit kann man sich einem Mammut nähern?

Messen, zählen und Mengen abschätzen war für den Steinzeitmenschen überlebenswichtig. Er musste abwägen, ob seine Sippe eine Herde von Rentieren gefahrlos angreifen konnte, oder wie weit er sich einem Mammut nähern musste, um es mit dem Speer tödlich zu treffen, ohne von ihm zertreten zu werden. Doch sind solche groben Annäherungen ein Instinkt oder eine bewusst erlernte Fähigkeit?

Die Frage nach dem Ursprung der menschlichen Intelligenz ist ungelöst. Zwar deuten Untersuchungen aus der Kinderpsychologie und anthropologische Forschungsergebnisse darauf hin, dass es eine Periode in der Evolution des Homo Sapiens gab, in der er nicht zählen konnte. Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass auch die urzeitlichen Menschen ein intuitives Gespür für Zahlen und Mengen besaßen. – ganz ähnlich dem Raben auf dem Burgfried.

Dafür sprechen verhaltensbiologische Beobachtungen. Auch wenn der Mensch heute dank modernster Rechner die Zahl Pi bis auf die 10-billionste Stelle nach dem Komma berechnen kann, so erkennt sein Gehirn auch heute noch kaum mehr als vier ähnlich aussehende Gegenstände gleichzeitig: Schon wenn sieben Eurostücke auf dem Tisch liegen, müssen wir sie zählen – oder in Gedanken Teilmengen bilden.

Ippesheim in Mittelfranken gilt als besonders früher Beleg für die Entstehung des mathematischen Verständnisses. Hier, an den Ausläufern des Steigerwaldes, gut 30 Kilometer südöstlich von Würzburg, entdeckte der Luftbildarchäologe Klaus Leidorf im März 1989 bei seinem Überflug mit einer Cessna auf einem Lößrücken ein rundes Grabenwerk am Boden. Heute forscht hier Professor Wolfram Schier vom Exzellenzcluster TOPOI, das an der Freien Universität und der Humboldt-Universität angesiedelt ist.

In den Neunzigerjahren wurde der Abschnitt erstmals systematisch untersucht. Die Archäologen entdeckten im Erdreich eine kreisrunde Grabenanlage mit vier Toren. Umgeben war sie vor Urzeiten von einem Graben und einem Ring aus Holzpalisaden. Die Wissenschaftler datierten den Bau auf die Zeit um 4.800 v. Chr.

Mittlerweile ist die Anlage freigelegt und genau vermessen. Sie hat einen Durchmesser von 64 Metern – das entspricht der Größe des Riesenrades im Wiener Prater. In ihrer Mitte wurden vor zehn Jahren der Schädel und ein Zehenknochen einer toten Frau entdeckt. Weil sie kopfüber beigesetzt worden war, vermuten einige Forscher, dass die Frau geopfert wurde.

Mathematische Präzision im Fränkischen – 4800 vor Christus

Noch erstaunlicher aber war die mathematische Präzision, mit der die Anlage errichtet wurde: Die Tore sind exakt auf den Stand der Sonne am kürzesten und längsten Tag des Jahres ausgerichtet. Außerdem zeigten sie den Sonnenuntergang an den beiden Tagen der Tagund Nachtgleiche an. Schier deutet beides als Indiz für rituelle Handlungen, die an diesem Ort durchgeführt worden sein könnten.

„Eine solche Anlage kann man nur bauen, wenn man über Jahre hinweg systematisch die Laufbahn der Sonne beobachtet, dokumentiert und misst“, sagt TOPOI-Sprecher Michael Meyer. Im Rahmen des Exzellenzclusters soll nun die astronomische Einbindung in der Grabenanlage weiter untersucht werden.

Die Entdeckung in Ippesheim zeigt, welche neuen Bedürfnisse die menschlichen Gesellschaften nach der neolithischen Revolution entwickelten: War für den Jäger und Sammler nur die Abschätzung des Raums und der Mengen bedeutend, mussten sich die Ackerbauern und Viehzüchter der jungsteinzeitlichen Siedlungen nun auch in der Zeit orientieren. Zu wissen, wann die Tage wieder länger werden und die Saat aufs Feld gebracht werden kann, war für ihre Gemeinschaften überlebenswichtig. Einfache Observatorien, wie die Ippesheimer Grabenanlage, gaben Orientierung.

Die Sesshaftigkeit der jungsteinzeitlichen Sippenverbände war auch Voraussetzung für das Aufkommen von Handelsbeziehungen. Verbindliche Einheiten mussten gefunden und gezählt werden: Körbe, Wägesteine und Fußmaße dürften schon früh eine Rolle gespielt haben bei der Aufteilung der Ernte und dem Anlegen von Lebensmittelspeichern.

Aufgrund der besseren Versorgung gab es auch immer mehr Menschen. Lebten in der Mittelsteinzeit nach Schätzungen kaum mehr als 500.000 auf der Erde, stieg ihre Zahl bis in die Zeit um das Jahr 3000 vor Christus auf etwa 28 Millionen.

Eben in dieser Periode entdeckte man in Vorderasien, dass aus der Verschmelzung von Kupfer und Zinn ein widerstandsfähiges, hartes und gut formbares Metall entstand – die Bronzezeit brach an. Über die Levante, Nordafrika und die Apenninhalbinsel gelangte das Wissen über die Herstellung des neuen Materials um 2200 vor Christus nach Mitteleuropa, vierhundert Jahre später war die Bronze in ganz Europa verbreitet. Verzierte Stäbe aus Holz und Metall, die sich vielfach in der Architektur der Siedlungen wiederfinden, sind Zeugen der kulturellen Entwicklung des Raums.

Mit der Bronzezeit beginnt der Handel mit Rohstoffen

Mit der Entdeckung der Bronze blühte auch der Handel mit Rohstoffen auf – und mit ihm das Zählen und Messen. „Rezepte für Legierungen setzen eine Vorstellung für Mengen voraus“, sagt Prähistoriker Meyer. „90 Teile Kupfer und 10 Teile Zinn mussten verlässlich abgewogen werden.“

Vergleicht man Sichel-Funde aus Mitteleuropa mit solchen aus anderen Kulturen – etwa der minoischen auf Kreta –, fällt das annähernd gleiche Gewicht der Werkzeuge auf. „Das spricht dafür, dass es für Bronze ein Gewichtsmaß gab, das weit über die Grenzen einer Kultur bekannt war“, sagt Meyer. Das hört sich plausibel an, lässt sich aber bisher noch nicht beweisen.

Nur die Uhren gehen anders: Das Rechensystem, basierend auf der Zahl 60, kam 2300 vor Christus auf. Außer zur Zeiteinteilung wird es heute jedoch nicht mehr genutzt.

Nur die Uhren gehen anders: Das Rechensystem, basierend auf der Zahl 60, kam 2300 vor Christus auf. Außer zur Zeiteinteilung wird es heute jedoch nicht mehr genutzt.
Bildquelle: photocase/stb247 http://www.photocase.com/photo/198627-stock-photo-sky-sun-vacation-travel-clouds-loneliness-architecture

Im Zweistromland und am Nil entwickelte sich unterdessen die menschliche Kultur weiter, und mit ihr auch die Mathematik. Die Ausbreitung von Pflugbau, Nutzungswechselwirtschaft und Mistdüngung steigerten die Erträge auf den Feldern. Die ersten Hochkulturen waren nun auch in der Lage, Menschen zu ernähren, die nicht selbst ihre Felder bestellen mussten. Es entwickelte sich eine Verwaltung, Feldflächen wurden vermessen und berechnet, Lagerbestände erfasst und Bilanzen erstellt, Abgaben berechnet, ein ausgeklügeltes Überwachungs- und Kontrollsystem installiert. Diese Abläufe finden sich bereits in den ältesten Texten aus Babylonien, die um das Jahr 3000 vor Christus entstanden sind. Da die Systeme jedoch zu diesem Zeitpunkt schon sehr ausgereift waren, müssen sie auch schon in vorschriftlicher Zeit existiert haben.

„Die Verwaltung der Uruk-Zeit bediente sich zum Festhalten von Mengen einfacher Zählsymbole, sogenannter Tokens“, sagt Hagan Brunke vom Institut für Altorientalistik der Freien Universität.

Der Wissenschaftler ist nicht nur in Assyriologie promoviert, sondern auch in Mathematik. Er ist ein ausgewiesener Kenner der frühen Zahlengeschichte: „Für jedes Schaf, jede Getreideeinheit wurde ein Stück geformter Ton auf einen Haufen gelegt und so die Menge abstrakt gespeichert. Während zunächst jedes Objekt für eine Einheit stand, ging man sehr früh dazu über, Tokens in verschiedenen Formen zu benutzten, die jeweils einen anderen Zahlenwert symbolisierten.“ Ein runder Stein etwa könnte beispielsweise „5“ bedeutet haben, ein Dreieck „10“.

Um das Wissen über Schrift- und Zahlensysteme weiterzugeben, entstanden in den Städten Mesopotamiens Schreibschulen. Hier wurde auf Tontafeln geübt, was der Schriftgelehrte später wissen musste: Bezeichnungen von Amtsträgern, Maßeinheiten oder eben Zahlentabellen. Lernaufgaben aus dieser Zeit haben die Jahrhunderte überdauert und werden von Forschern in aller Welt entschlüsselt.

Dass sich die Mathematik in Babylonien entwickelt hat, davon sind Wissenschaftler heute überzeugt. „Ein babylonischer Algorithmus zum Ziehen der Quadratwurzel wird noch heute in Taschenrechnern verwendet“, sagt Hagan Brunke. Der Kreiszahl Pi näherte man sich, indem man einen Mittelwert aus zwei Quadraten bildete: aus einem, dessen Kanten den Kreis berührten und einem, das der Kreis exakt umschloss.

Überhaupt spielten Mittelwert und Annäherung eine entscheidende Rolle im Denken der Sumerer. Man fand zum Beispiel Kartierungen von unregelmäßigen Feldern, die man zur Flächenberechnung in solcherart berechenbare Formen unterteilte – Rechtecke, Trapeze, Quadrate.

Zwischen Euphrat und Tigris entsteht die theoretische Mathematik

Die zweite babylonische Eigenheit war die Liebe zu Listen. So entdeckten die Archäologen zwischen Euphrat und Tigris Rechentabellen von Kehrwerten, Multiplikatoren und Maßen. Teilweise wurden die Listen so weit geführt, dass ein praktischer Nutzen ausgeschlossen werden kann: Die Geburt der theoretischen Mathematik.

Grundlage für alle Berechnungen war das Sexagesimalsystem, das auf der Zahl 60 basiert. Es war bei den Sumerern um 2300 vor Christus aufgekommen und wurde von den Babyloniern übernommen. Möglicherweise basiert es auf dem einhändigen Zählen bis 12, bei dem mit dem Daumen als Zeiger die jeweils drei Fingerglieder derselben Hand durchgezählt werden. Kommt man am zwölften Glied an, ist eines von fünf Dutzend voll, die man sich mit den Fingern der anderen Hand merken kann. Noch heute ist dieses Fingerzählsystem in Teilen des Orients, in Indien und Indochina verbreitet. Erst die assyrische Kultur des zweiten Jahrtausends vor Christus führte im Zweistromland das Dezimalsystem ein; das auf 60 basierende System pflegten nur noch Gelehrtenkreise. Überlebt hat es bei der Einteilung von Stunden in Minuten und Sekunden und in der Einteilung eines Kreises in 360 Grade.

Im alten Ägypten dagegen hatte sich wohl früh aus dem Zählen der Finger das Dezimalsystem durchgesetzt, mit dem wir für gewöhnlich auch heute noch rechnen.

Die Gelehrten am Nil beschäftigte der Pegel des Leben bringenden Flusses. Noch heute können Touristen nahe Assuan ein Nilometer besichtigen, mit dem die Beamten je nach Wassertiefe den landesweiten Steuersatz anpassten.Ein Beispiel, wie weit die Mathematik dort entwickelt war, ist auch heute noch gut sichtbar: die Cheops-Pyramide. Das Verhältnis von Höhe zu doppelter Seitenlänge beträgt 22:7 – und entspricht damit bis zur zweiten Dezimalstelle der Zahl Pi.

Die Griechen entwickeln die mathematische Beweisführung

„Es ist kaum anzunehmen, dass die ägyptischen Baumeister diese Monumente alleine nach dem trial-anderror-Verfahren konstruiert haben“, sagt Brunke. Sicher ist, dass auch in dieser Hochkultur Abgaben, Arbeitsleistungen Menge und Art von Opfergaben schriftlich festgehalten wurden. Allerdings erreichten die Ägypter bei Weitem nicht das hohe Maß an Systematisierung und Abstraktion wie die Menschen in Mesopotamien.

„Eines ist den Ägyptern und den Hochkulturen im Zweistromland jedoch gemein“, sagt Brunke: „In beiden Kulturen fehlt die Reflexion des Wissens – auch des Wissens über Zahlen.“ Eine im heutigen Sinne mathematische Beweisführung entwickelten erst die Griechen. Sie waren es, die die Mathematik von einer praktischen in eine theoretische Tätigkeit transformierten. Pythagoras suchte gar ganz philosophisch die Harmonie der Natur in der Ordnung der Zahlen.

„Seinen berühmten Satz, mit dem man die Diagonale aus den Seitenlängen eines Rechtecks berechnen kann, kannten die Babylonier schon rund 1000 Jahre, bevor Pythagoras ihn bewiesen haben soll“, sagt Brunke. „Bloß haben sie vergessen aufzuschreiben, wie sie darauf gekommen sind.“