Sie richtet ihren Blick auf die Toten im Raum. Die Überreste eines Skeletts leuchten matt im Licht eines Scheinwerfers: Schienbeine, Wirbelsäule, ein halber Schädel. Die Umrisse des Körpers sind sorgsam aus dem Erdreich gekratzt, die Knochen vom rotbraunen Lehm befreit. Ringsum liegen Instrumente verstreut, ein Pinsel, Rechen, Skizzen. Es könnte ein Acker sein, auf dem Barbara Rüschoff-Thale steht, eine Baugrube, in der ein Bagger auf Knochen gestoßen ist. Doch es handelt sich um eine archäologische Ausgrabungsstelle, exakt nachgebaut im Ausstellungsraum des Westfälischen Museums für Archäologie (WMA) in Herne. BILD

Rüschoff-Thale ist die Leiterin hier. Sie geht um das festgetretene Erdreich herum, zeigt auf ein weiteres Skelett, das seltsam verschoben neben dem ersten liegt: »Den hier haben sie damals zur Seite geschoben, um Platz für den Nächsten zu schaffen.« Mehr verrät sie noch nicht.

Ein Bauer war 1938 auf die Überreste in seinem Acker gestoßen, unweit des westfälischen Orts Warburg. Jahrelang schwieg er, aus Angst vor einer Untersuchung durch die Nationalsozialisten. Erst 1955 gab der Mann seinen Fund bekannt. Dreißig Jahre später begann die Untersuchung, zwei weitere Jahrzehnte später ließ Rüschoff-Thale die Grabung in ihrem Museum rekonstruieren. Den »Fall Warburg« nennt sie die Geschichte dieser Toten. Eine Art Kriminalfall, gelöst mit den Mitteln der modernen Archäologie. Im WMA wird er noch einmal aufgerollt.

Seit drei Jahren erst steht dieses Museum in der ehemaligen Bergbaumetropole Herne. In Münster hatten die Artefakte aus 200 Jahren regionaler Sammelleidenschaft das alte Gebäude zu sprengen gedroht. Mit nur einer Stimme Mehrheit entschied sich der Träger des Museums, der Landschaftsverband Westfalen-Lippe, für den Umzug. Ein wirtschaftliches Wagnis. Für Besucher hatte Herne bis dahin wenig zu bieten. »Das war eine sehr mutige Entscheidung«, sagt Rüschoff-Thale heute; sie habe auch einen »starken strukturpolitischen Aspekt« gehabt.

Dennoch häufen sich seit dem Umzug die Erfolgsmeldungen. Unter der Leitung der Mittvierzigerin wurde das WMA zum Besuchermagnet. Mehr als 100000 Menschen kamen im vergangenen Jahr in die Ausstellungsräume, eine Zahl, die nur fünf Prozent der deutschen Museen erreichen. Den imposanten Besucherstrom verdankt das Museum seiner ungewöhnlichen Ausstellungskonzeption. Denn neben den Artefakten wird hier die Archäologie als Wissenschaft thematisiert – in einer Abenteuerlandschaft, die mit dem verstaubten Regionalmuseum früherer Tage fast nichts mehr gemein hat.

Dabei hatte der Träger keine großen Veränderungen geplant, als er 1999 mit dem Bau des neuen Domizils im Zentrum von Herne begann. »Aber die Forschung schreitet voran«, sagt Rüschoff-Thale, die man für den neuen Standort als Steinzeitexpertin ins Boot holte: »Das bedingt eine völlig neue Konzeption.« Zudem sei der Standort Herne eine Herausforderung. »Hier kann man nur durch eine mutige und progressive Ausstellung Aufmerksamkeit auf sich ziehen.« Darum entwickelte die quirlige Praktikerin zusammen mit drei Kollegen die Idee, die Ausstellung in eine Grabungslandschaft zu verwandeln, mit Stegen, Zelten und nachgestellten Schauplätzen.