Zum Inhalt springen

Südamerika Die versteckte Inka-Stadt der heiligen Lamas

Jeder Kultur ist etwas anderes heilig - den Inkas waren es die Lamas. Sie verewigten die Tiere in einer versteckten Stadt, 3000 Meter hoch in den Anden, unweit des berühmten Machu Picchu. Archäologen fanden heraus: Die ganze Anlage zeigt auf ein Lama-Sternbild.
Von Patrice Lecoq

Fast zwei Tage dauert der Aufstieg vom Andendorf Cachora zu den Ruinen von Choqequirao. Etwa 160 Kilometer nordwestlich der alten Inka-Hauptstadt Cuzco und 3000 Meter über dem Meeresspiegel erstreckte sich dort eine mehr als 2000 Hektar große Anlage, die dem berühmten Nachbarn Machu Picchu in ihrer Blütezeit an Großartigkeit nur wenig nachstand.

Heute erblickt der Besucher in der "Goldenen Wiege", so die Übersetzung des Namens, von Vegetation überwucherte Terrassen, Plätze, Tempel, Brunnen und Kanäle; erst dreißig Prozent der Stadt sind vom Gestrüpp befreit. Schwer zugänglich und fernab größerer Siedlungen, interessierte der in spanischen Dokumenten als Silberstadt bezeichnete Ort im 17. und 18. Jahrhundert vor allem Schatzsucher. Im Jahr 1847 hatten die Ruinen dann hohen Besuch: Der französische Diplomat Léonce Angrand frönte archäologischen Interessen und versuchte als Erster, die Grundrisse der Stadt zu zeichnen. Wohl zu Recht hielt er die Siedlung für eines der letzten Widerstandsnester der Inka gegen die Spanier. Erste Grabungen unternahm dort der Amerikaner Hiram Bingham Anfang des 20. Jahrhunderts, kurz bevor er Machu Picchu entdeckte. Die peruanische Regierung hat inzwischen einige größere Gebäude freilegen und restaurieren lassen, um einen archäologischen Park aufzubauen. Seit drei Jahren unterstützen französische Archäologen die Arbeiten.

Die Inka waren als letzte Andenkultur auf den Plan getreten und hatten im 14. Jahrhundert im Tal von Cuzco einen bäuerlichen Staat etabliert. Erst nach dem Sieg des Königs Pachacutec über das Volk der Chanca um 1438 expandierten sie in ganz Peru. Um das Reich zu kontrollieren, ließen Pachacutec und seine Nachfolger ein Netz von Städten und Verwaltungssitzen erbauen, darunter auch Choqequirao.

Wie andere Inkastädte auch war der Ort zweigeteilt: Hanan, die Oberstadt, bestand aus Kultbauten um einen freien Platz, aus zweistöckigen Lagerhäusern und Terrassen mit Nischen für Kultbilder. In Hurin, der Unterstadt, wohnte vermutlich die Elite in großzügigen Gebäuden um einen Platz und in der Nähe eines Brunnens. Auch Hurin verfügte über einen Tempel sowie zwei große, längliche Gebäude, die als Kallankas gedeutet werden, als Hallen für rituelle Tänze und Festveranstaltungen. Eine abgeflachte Kuppe überragte die Unterstadt, vielleicht eine Zeremonialplattform (Ushnu), auf der den Göttern geopfert wurde. Ein Netz von Kanälen versorgte die Stadt mit Wasser, das über einen Aquädukt vom 2400 Meter höher gelegenen Gletscher Yanacocha herabfloss.

Dem schwierigen Terrain entsprechend gab es in den Häusern normalerweise nur einen rechteckigen Raum mit flachem Boden. Bruchsteine wurden so bearbeitet, dass sie ohne Mörtel aufzuschichten waren, manchmal wurden sie aber auch mit Lehm verfugt. Auf diese Weise ließen sich Mauerzüge dem welligen Boden anpassen. Buckelsteine verliehen ihnen zudem einen Reliefcharakter. Weiterhin tpyisch: trapezförmige Türen, Fenster und Nischen.

Am Rand der beiden Stadtteile standen die Wohnhäuser des einfachen Volks. Von dort war es nicht weit zu tiefer gelegenen Terrassen, auf denen Mais und der "Inkareis" Quinoa, vielleicht auch Koka angebaut wurden. Gerade diese einfachen Behausungen, von denen die meisten noch unter dichter Vegetation verborgen liegen, überraschten die Forscher.

Feindliche Übernahme

Erst 2004 legte ein französisch-peruanisches Team dort ein halbes Dutzend Rundhütten frei, die einst mit kegelförmigen Strohdächern gedeckt waren, eine bei den Inka seltene Bauweise. In den Fundamenten entdeckte das französische Team außerdem Reste von Keramik aus einer Zeit vor den Inka – im 12. oder 13. Jahrhundert existierte auf dem Gelände offenbar schon ein Dorf des Volks der Chanka. Zwar duldeten die Inka nach ihrem Sieg um 1438 die ursprünglichen Einwohner im Ort, verbannten sie jedoch auf die unterste Stufe der neuen Gesellschaft.

Eine der Rundhütten ermöglichte eine Datierung der Ereignisse, denn sie wurde später als Grab umgenutzt: Dort fanden die Archäologen das Skelett einer jungen Frau in Hockstellung. Ihr Kopf war der aufgehenden Sonne und dem Yanacocha-Massiv sowie dem Salkantay-Gletscher zugewandt, denn die Andenbewohner glaubten – und glauben auch heute noch – daran, dass auf den Gipfeln Schutzgötter wohnen. Auch deshalb errichteten die Inka Städte wie Choqequirao oder Machu Picchu hoch oben in den Bergen. Tiere, Tongeschirr im örtlichen Inkastil und anderes sollten die Frau auf ihrer Reise in eine andere Welt begleiten. Mit der Radiokarbonmethode ließen sich die Knochenreste auf die Jahre 1440 bis 1460 datieren, also auf die Zeit der Inkaexpansion.

Lesen Sie weiter: In Stein verewigte Lamas warten auf den Sonnenuntergang - es gibt nichts Vergleichbares aus der Inkazeit. Die ganze Stadt war dem heiligen Tier gewidmet, ihre Lage nach seinem Sternbild ausgerichtet.

Auf dem Gelände des alten Dorfes zog man neue, rechteckige Bauten hoch, vermutlich Textilwerkstätten. Darauf verweisen tönerne Spinnwirtel – um Garn aus der Wolle von Lamas und Alpakas zu spinnen, wurden sie den Spindeln als Schwungräder aufgesetzt. Doch Landwirtschaft und Textilmanufakturen waren nur eine Seite von Choqequirao, in erster Linie hatte die Stadt wohl eine rituelle Bedeutung: In den vergangenen Jahren kamen 27 Steinmosaiken zum Vorschein, darunter 23 mit Lama-Darstellungen. Helle Schieferplatten im Mauerwerk bilden jeweils den Körper, Ritzungen skizzieren Mund und Augen. Alle Lamas wenden sich der untergehenden Sonne zu. Ein einmaliger Fund: Es gibt aus der Inkazeit nichts Vergleichbares. Diese Darstellungen fand man auf mehreren übereinanderliegenden Terrassen, deren Ausrichtung ebenfalls für die kultische Bedeutung spricht: Sie weisen auf die beiden benachbarten Berggipfel Sorani und Quitay und auf den Fluss Apurimac.

In den Anden sind Lamas ein elementarer Bestandteil des Lebens. Sie liefern Fleisch, Wolle, Knochen für Werkzeuge; ihr Kot dient als Brennmaterial. Vor der Ankunft der Spanier gab es außerdem kein anderes Packtier. Dementsprechend ranken sich viele Legenden um das Lama. Es sei den Menschen von Mutter Erde, Pacha Mama, geschenkt worden, um ihnen zu helfen, in diesem unwirtlichen Land zu überleben. Wie das Alpaka soll es aus Quellen, Seen und anderen Wasserstellen hervorgekommen sein – Ursprungsorten des Lebens.

Mythische Tiere in dunklen Wolken

Starb eine bedeutende Persönlichkeit, tötete man ein Lama, auf dass es die Seele des Verstorbenen ins Jenseits befördere. Auch heute noch, Jahrhunderte nach der christlichen Missionierung, opfern die Andenbewohner den Göttern bei rituellen Feierlichkeiten Lamas oder Lamaföten.

Selbst am Sternenhimmel erkannten die Inka dieses wichtige Tier. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts notierte der spanische Priester Francisco de Avila (1573?– 1647), das Sternbild, das man mit dem Namen Yacana bezeichne, gelte als Seele der Lamas und ihrer Artverwandten. "Es scheint mitten über den Himmel zu ziehen. Die Menschen nehmen es zunächst ganz schwarz kommend wahr. Yacana wandert in einem Fluss, der Milchstraße."

Der Mythos erzähle auch, dass "Yacana um Mitternacht, ohne dass es jemand merkt, das ganze Wasser des Meeres austrinkt". Und das sei ein Glück, andernfalls würden die Siedlungen der Menschen überflutet.

Schließlich berichtet die Handschrift weiter, dass "Yacana ein kleiner schwarzer Fleck namens Yutu vorausgeht, eine Wachtel. Yacana hat auch ein Kalb, und es scheint, als ob das Kalb sauge". Für die Inka war die Milchstraße ein heiliger himmlischer Fluss, der mythische Tiere beherbergte. Anders als bei unseren Sternzeichen entsprachen ihnen aber dunkle Flecken, die – wie wir heute wissen – von interstellaren Staubwolken erzeugt werden. Yacanas Augen bildeten zwei Sterne, vermutlich Alpha und Beta Centauri. Noch heute verehren die Hirten der Andenhochländer das himmlische Lama, das sie Choque Chinchay nennen, und sein Kind. Und sie glauben, dass beide von einem Hirten und dessen Sohn geführt werden, die mit Sternenpfeilen die widerspenstigen Tiere kontrollieren.

Dieser "negative" Tierkreis half, Schlüsseldaten des bäuerlichen Lebens wie Aussaat und Ernte zu bestimmen oder auch Herden und Karawanen durch die Berge zu führen. Zum Beispiel folgten den Tieren die Plejaden. Der spanische Priester notierte: "Wenn sie hell erscheinen, sagen die Leute‚ dieses Jahr wird es Überfluss geben. Wenn sie aber nur blass erscheinen, sagen die Leute, wir werden Mangel leiden." Heute wissen wir, dass diese Vorhersagemethode nicht schlecht war: Das Klimaphänomen El Niño, das in Peru mit trockenen Sommern einhergeht, verursacht im Winter eine dünne, hoch gelegene Wolkenschicht, welche die Plejaden blasser wirken lässt.

Offenbar spielte das heilige Lama in Choqequirao eine große Rolle: Während Steinmosaiken mit "Schachbrettern" und gebrochenen Linien wie große Bänder die oberen Terrassen schmücken, sind es "Herden" erwachsener Lamas auf den mittleren Terrassen und kleine Gruppen der Tiere, zum Teil mit Jungen, auf den unteren. Jede Darstellung bildet ein spezifisches Motiv, das in seiner Größe und Anordnung variiert. Das erinnert an das Design indianischer Textilien, deren Gestaltungsregeln Experten bislang noch kaum verstehen.

Im vorkolumbischen Peru hatten Kleidungsstücke eine symbolische Funktion, die weit über ihren praktischen Zweck hinausreichte. Sie kündeten von Macht und gesellschaftlichem Status und waren mit Lebensabschnitten verknüpft. Webereien spielten eine wichtige Rolle bei Zeremonien und Riten. Schon vor 5000 Jahren war diese Kunst entwickelt worden, lange vor der Töpferei. Bei der Herstellung eines Wolltuchs verwendet man noch heute Schmuckmotive wie Module: Aneinandergereiht und nur in der Ausrichtung variiert, bilden sie parallele Bänder. Auch die Mosaiken Choqequiraos zeigen eine solche Anordnung, wobei die Flächen der Terrassen die einzelnen Muster voneinander abgrenzen.

Textile Gestaltungsregeln in der Architektur einzusetzen, war im alten Peru weit verbreitet. Man findet dergleichen unter anderem bei den Fassaden von Kulttempeln der Chavín (um 900 v. Chr.), der Moche (6. Jahrhundert n. Chr.) und der Chimú (13. Jahrhundert), wobei Darstellungen von Göttern oder mythischen Szenen oft noch durch Farben betont wurden. Die geometrischen Choqequirao-Mosaiken gehören zur standardisierten Bildsprache andiner Textilien: Zickzack- oder Wellenlinen bedeuteten dort häufig Wege, denen Hirten mit ihren Herden folgten, Wasser stand für Flussläufe oder Schlangen. Die Schachbrettmuster symbolisierten die Augen der Vorfahren oder die des himmlischen Lamas.

Auch wenn es sich nicht beweisen lässt – dieser Mythos liegt wohl den Mosaiken von Choqequirao zu Grunde. Wenn dort die Nacht anbricht, erscheint als Erstes das Kreuz des Südens, und die Augen von Yacana gehen über dem Ushnu auf. Die Milchstraße weist im Dezember von Nordost nach Südwest – wie auch die Herde der Steinlamas in dieser Richtung und auf einen der Tempelbezirke aufzusteigen scheint. Von der Stadt aus gesehen steht die Milchstraße senkrecht über dem Apurimac, dem sie scheinbar in Richtung des Pazifischen Ozeans folgt, der Quelle des himmlischen Wassers. Von der Choque Chinchay Nacht für Nacht trinkt, um die Menschen zu retten.


Patrice Lecoq lehrt Archäologie der Anden an der Université Paris I. Er leitet das Choqequirao-Projekt des französischen Außenministeriums. Dieser Beitrag ist eine redaktionelle Bearbeitung seines Artikels "Choqek'iraw, le site inca des lamas sacrés" aus "Pour la Science" 5/2006