So schreibt der Wind Geschichte. Eines Tages vor 2090 Jahren blies er so heftig über die Ägäis, dass ein römischer Frachter leeseits der Insel Antikythera Schutz suchte, aber nicht fand. Das 50 Meter lange Schiff sank, den Laderaum voller Luxusartikel: kostbaren Schmucks, bronzener Frauenkörper, Amphoren mit raren Weinen und reichlich Bargeld.

Zwei Jahrtausende später, kurz vor Ostern 1900: Wieder war die griechische See aufgewühlt. Diesmal schipperten zwei Kutter mit Schwammtauchern durch die Wogen; sie retteten sich in den Windschatten von Antikythera, der Meeresgott Poseidon ließ sie leben. Und wenn sie schon einmal vor Anker lagen, so dachten sich die Männer, konnten sie dort auch ihrem Beruf nachgehen. Elias Stadiatis tauchte am tiefsten, mehr als 40 Meter hinab ins eisige Wasser. Erst nach über neun Minuten durchbrach er wieder die Oberfläche, japsend und einen riesigen Bronzearm schwenkend. Stadiatis war auf das römische Wrack gestoßen.

Sechs Monate lang sinnierten Stadiatis und seine Genossen, ob sie den Fund verjubeln oder den Behörden melden sollten. Die Ehrlichkeit siegte. Am 24. November 1900 ankerte ein Schiff der griechischen Marine 20 Meter vor den Riffs der Insel. Aber unter all der Pracht übersahen selbst die Archäologen an Bord die besten Stücke aus dem antiken Schiffsbauch: einige formlose, mit dicker grüner Kruste überzogene Bronzeklumpen in den Überresten einer Holzschachtel von der Größe eines Zigarrenhumidors. Die unscheinbaren Brocken landeten in einer Ramschkiste des Athener Nationalmuseums. Erst ein Jahr nach dem Fund, als das Holz trocknete und barst, gaben sie ihr Geheimnis preis. Unter dem bröselnden Grünspan zeichnete sich ein Wirrwarr von Zahnrädern ab.

Darauf war niemand gefasst. Kein anderes Relikt aus der Antike war technisch annähernd so ausgefeilt. Da war nicht nur das mit Abstand älteste Zahnradgetriebe ans Licht gekommen, sondern auch eines von atemberaubender Komplexität. Zwar hatten die Hellenen einzelne Zahnräder schon in ihrer Frühzeit an Wassermühlen gebaut. Aber bis in byzantinische Zeiten konnten Mechaniker nicht mehr als eine Hand voll Zahnräder zusammenschalten, so jedenfalls dachten die Altertumsgelehrten vor dem Fund von Antikythera. Doch in diesem Getriebe griffen einst an die 40 Zahnräder ineinander. Das ist ungefähr so, als käme plötzlich ein Auto mit Verbrennungsmotor aus der Renaissance zutage.

Was hatten die alten Griechen da geschaffen? Eine Uhr? Ein Navigationsgerät? Gar einen universellen Computer? Oder nur Spielzeug? Bis heute grübeln Instrumentenkundler über Funktion und Zweck des Räderwerks. Der bisher aufwändigste Versuch, dem bronzenen Rätsel auf den Grund zu gehen, ist das Antikythera Mechanism Research Project (AMRP): Ein griechisch-walisisches Forscherteam, bestehend aus Schriftexperten, Mathematikern und Naturwissenschaftlern, rückte den fleckigen Bronzeklumpen mit modernsten Simulationsverfahren und Durchleuchtungstechniken zuleibe. Allein der 3-D-Röntgen-Tomograf, der das verwirrende Innere des antiken Automaten mit Zehntel-Millimeter-Genauigkeit abtastete, wiegt acht Tonnen. Weil das empfindliche Räderwerk nicht transportfähig ist, wurde der Tomograf nach Athen geschifft.

Das Staunen jedoch bleibt auch nach dem Großangriff der modernen auf die antike Technik. "Der Mechanismus ist noch ausgeklügelter, als wir dachten", sagt Mike Edmunds, Leiter des Projekts und Astronom an der Universität Cardiff, "dieses technische Niveau wurde erst im späten Mittelalter wieder erreicht." In dieser Woche, auf einer Tagung in Athen und mit einer Publikation im Wissenschaftsmagazin Nature (Bd. 444, S. 587), stellt die AMRP-Gruppe ihre Erkenntnisfortschritte zum Rätsel von Antikythera vor.

Nach seiner Entdeckung war der Mechanismus zunächst auf dem Untersuchungstisch des griechischen Archäologen Spiridon Stais gelandet. Doch er hatte keine Chance, das unglaubliche Gerät zu durchschauen. Die korrodierten Zahnräder waren zu fest ineinander verbacken, um sie zerstörungsfrei auseinander zu nehmen. Immerhin konnte Stais Fragmente von Inschriften auf Skalenblättern entziffern, und er erkannte die Namen von Himmelskörpern und Tierkreiszeichen. Offenbar handelte es sich um eine Art astronomischen Rechner. Weil die beweglichen Skalen seit dem antiken Schiffsunglück in ihrer letzten Stellung festsaßen, konnte Stais den Fund sogar datieren, auf das Jahr 80 vor Christus. 1985 bestätigte der französische Unterwasserforscher Jacques Cousteau diese Angabe. Er fand in dem Wrack einige Münzen, die 86 vor Christus in Pergamon geprägt worden waren.