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Mumien-Medizin Doktor sammelt uralte Leichen

Knochen abschaben als Lebensinhalt: Arthur Aufderheide untersucht uralte Leichen, um den Ursprung von Krankheiten zu erforschen. 7000 Gewebeproben von 600 Mumien hat er gesammelt und Tuberkulose, Herzversagen und Malaria gefunden - besser als moderne Röntgenapparate.
Von Ute Eberle

Schon unappetitlich, was nach dem Tod mit einem Körper geschieht. Minuten nach dem letzten Atemzug platzen die ersten Zellen und geben gewebezersetzende Enzyme frei. Im Gedärm vermehren sich Bakterien explosionsartig und wandern durch die Adern zu den anderen Organen. Nach ein paar Tagen färbt sich der Körper grün, später lila, dann schwarz. Beim Zersetzen der Muskeln und Eingeweide, des Fetts und der Nerven entstehen Gase, die die Leiche bis auf das Dreifache aufblähen. Die Fingernägel fallen ab, die Haut rutscht vom Körper wie ein ausgeleiertes Kleidungsstück. Der Mensch verrottet.

Manchmal jedoch stoppen Chemikalien oder extreme Witterung wie Hitze und Dauerfrost diesen Prozess. Dann entsteht eine Mumie, die Jahrtausende überdauern kann. Bis eine Überschwemmung sie ins Freie spült oder sie beim Abtauen eines Gletschers an die frische Luft kommt. Oder bis Arthur Aufderheide sie findet.

Aufderheide ist ein 84-jähriger pensionierter Krankenhauspathologe aus Minnesota. Ein Mann mit einer Tolle weißer Haare, blauen Augen hinter einer dicken Hornbrille und dem entschlossenen Gang eines Jüngeren. Vor 38 Jahren gab er seine private Arztpraxis auf und begann, Mumien zu studieren. Seither hat er das weltweit größte Archiv von Mumienteilen zusammengetragen, eine Sammlung von rund 7000 Gewebeproben, die er gut 600 Mumien entnommen hat. Diese Arbeit hat ihn zu einer Autorität unter den Mumienforschern gemacht – und das, obwohl er weder ausgebildeter Archäologe noch Anthropologe ist. Im Jahr 2003 veröffentlichte er ein 626 Seiten dickes Buch The Scientific Studies of Mummies, heute das Standardwerk des Fachs.

Man findet Aufderheide in Duluth, einem 90.000-Einwohner-Städtchen am Ufer des Lake Superior, so weit im Norden der USA, dass selbst Einheimische scherzen, es gebe dort nur zwei Jahreszeiten: den Winter und den 4. Juli, Amerikas traditionellen Sommerfeiertag. Obwohl es Mitte August ist, trägt Aufderheide lange Hosen, ein langärmeliges Hemd und eine Tweedjacke. "Gestern hat der Herbst begonnen", sagt er, und tatsächlich weht eine frische Brise, als er die Tür seines Kleinwagens aufhält. Aufderheide behandelt Mitmenschen mit der formvollendeten Höflichkeit eines Filmhelden aus den 50er Jahren.

Obwohl Mumien die Menschen schon lange faszinieren – im 19. Jahrhundert etwa hielten Geschäftsmänner pseudowissenschaftliche "Auswickelungen" ägyptischer Mumien vor zahlendem Publikum ab –, ist Aufderheide erstaunt, wenn jemand aus Europa anreist, um seine Sammlung zu sehen. Und auch wenn er zu höflich ist, dies zu sagen, hat er eigentlich keine Zeit für Besucher. Trotz seines Alters arbeitet er jeden Tag. "Und die halben Nächte, wie meine Frau bezeugen kann."

Nicht aus Leidenschaft sammelt Aufderheide Mumien, sondern wegen der Geschichten, die ihr vertrocknetes Fleisch erzählt. In den Muskeln und Eingeweiden sucht er nach den Spuren uralter Krankheitserreger und Parasiten, in der Hoffnung, mehr über ihre Ursprünge zu erfahren.

Im Jahr 1990 untersuchte Aufderheide in einem einzigen Sommer 140 Mumien, die eine US-Archäologin aus alten Gräbern in Peru geborgen hatte. Lateinamerika – und speziell die Atacamawüste, die sich von der Südgrenze Perus bis weit nach Chile zieht – ist eine seiner ergiebigsten Fundstätten. Dort regnet es so wenig, "dass fast alle Leichen auf natürliche Weise mumifizieren".

Einmal landete auf seinem improvisierten Autopsietisch – zwei Sägeböcke mit einer Sperrholzplatte auf seiner Veranda in Peru – eine besondere Mumie: eine Frau, die 1000 Jahre zuvor gestorben war. Grabräuber hatten ihr Kopf und Hände abgerissen, um ihren Schmuck zu stehlen. Doch der Oberkörper war weitgehend intakt.

Als Aufderheide ihre Lunge aufschnitt, erspähte er einen vertrauten Knoten. "Tuberkulose in Mumien sieht aus wie Tuberkulose heute", sagt der Pathologe. Zusammen mit dem Biochemiker Wilmar Salo von der Universität Minnesota wies Aufderheide später in dem Knubbel tatsächlich DNA-Spuren des Tbc-Erregers nach. "Damit war Christoph Kolumbus entlastet", sagt er. Der Entdecker war lange verdächtigt worden, die tödliche Krankheit nach Amerika eingeschleppt zu haben. Die Frau aber war 500 Jahre vor seiner Ankunft gestorben.

Aufderheide hofft, dass die Wissenschaft langfristig praktischen Nutzen aus seinen Entdeckungen ziehen kann, etwa auf der Suche nach neuen Medikamenten. Ein Idealfall sind die Erkenntnisse über Lepra. Im Mittelalter hatte sich der Aussatz in Europa rasant verbreitet, zog sich jedoch nach einigen Jahrhunderten plötzlich wieder zurück. Gleichzeitig grassierte die Tuberkulose, begünstigt durch das Wachstum der Städte, wo viele Menschen zusammengepfercht in oft schlecht belüfteten Unterkünften lebten. Der Schichtwechsel der Seuchen war möglicherweise kein Zufall. Eine denkbare Erklärung ist, dass ausgerechnet eine Infektion mit dem Mycobacterium tuberculosis vor den verwandten Lepraerreger schützt, weswegen Ärzte heute in manchen Entwicklungsländern abgeschwächte Tuberkuloseerreger als Schutz gegen beide Krankheiten spritzen.

Seine Mumiensammlung hat Aufderheide in einer ehemaligen Grundschule untergebracht, in der sich heute Labors der Universität Minnesota befinden. Sein Raum war einmal der Kindergarten. Wo früher getobt und gespielt wurde, stehen heute so viele Tische und Bücherregale, dass kaum mehr Platz als in einem Flugzeuggang bleibt. Zum Schutz gegen die Sonne sind die Fenster mit Alufolie verklebt.

Aufderheide öffnet einen sperrigen, holzverschalten Brutkasten, Baujahr 1970. Das Gerät ist längst nicht mehr in Betrieb, "doch es schließt luftdicht, und darauf kommt es an", sagt er. Im Inneren stapeln sich Pappschachteln, die Ecken mit Klebeband verstärkt. Eine schwache und doch beißende Note steigt auf, wie aus einem Raubtierkäfig.

Mumienmedizin als Therapie gegen die Midlife-Crisis: Warum Aufderheide seine Forschungsreise selbst bezahlte - und stets seine Frau mitnahm - und sein Taschenmesser

Ordentlich sortiert wie die Karten in einem altmodischen Bibliothekskatalog, sind in den Schachteln Plastiktütchen aufgereiht. Jedes enthält einen Rest Mensch. Muskeln, Leber, Rippen, Haare, Haut, Gedärm. Ein Kehlkopf fällt auf, so braun und leicht wie ein Fetzen Pappe. Ein Finger, dünn wie ein Zweig. Teile eines Gehirns oder was davon bleibt, nachdem die Masse sich verflüssigt hat und wieder zu einem borkenähnlichen Stück getrocknet ist. Ein Penis, bis zur Unkenntlichkeit verschrumpelt.

Um die Ecke birgt ein ausgestöpselter Kühlschrank aus den 50ern weitere Mumienteile. Und pulverisiertes Fleisch – Reste von bereits biochemisch analysierten Mumien – füllt unzählige Plastikboxen in den Regalen. Die ältesten Menschenproben in Aufderheides Labor stammen von einer Mumie aus der Atacamawüste. Der "Acha Man" starb vor rund 9000 Jahren und ist eine der ältesten Mumien, die je gefunden wurden.

Aufderheide ist keiner, den deshalb Ehrfurcht packt. Für ihn sind Körper allein "Vehikel", vergängliche Hüllen für die menschliche "Essenz", die beim Tod verfliegt. Er würde ohne Zögern eine Autopsie an Familienangehörigen vornehmen, sagt er.

Schon als Pathologe fand Aufderheide Leichenöffnungen besonders befriedigend. "Wenn man eine Gewebeprobe untersucht, hat das etwas Dramatisches. Ist der Tumor bösartig oder nicht?", erklärt er. "Aber nur die Autopsie liefert ein vollständiges Bild."

Die Pathologie machte ihm jahrelang so viel Spaß, dass er es "morgens kaum erwarten konnte, aufzustehen und zur Arbeit zu gehen". Doch als Mittvierziger – er hatte drei Kinder, ein Haus und was man sonst als Erfolg im Leben bezeichnet – ließ die Begeisterung nach. Andere Männer hätten Tennisstunden genommen oder sich ein größeres Auto gegönnt, Aufderheide ging auf Abenteuersuche. Er lebte zwei Winter lang bei den Inuit in Kanada, wo er lernte, Karibus und Seehunde zu jagen. Später nahm er an einer Expedition des Amerikaners Ralph Plaisted teil, als der das erste Mal versuchte, den Nordpol per Snowmobil zu erreichen – die erste Überlandexpedition seit Robert Pearys Pionierfahrt 1909.

Und er übernahm einen Lehrauftrag, als die Universität Minnesota Anfang der 70er eine Medizinfakultät in Duluth eröffnete. Als Forschungsfeld wählte er Mumien. Eine gute Wahl für einen Mann, der Herausforderungen liebt. Um an Mumien zu kommen, musste Aufderheide durch die Welt reisen, nach Griechenland, Alaska, Ägypten, Russland und auf die Kanaren. Seine Frau Mary begleitete ihn als Helferin und Dolmetscherin. Selbstbewusst, charmant und sprachgewandt, erwies sie sich als ausgesprochen nützlich, sowohl beim Verhandeln mit Offiziellen als auch beim Untersuchen der Mumien. "Ich habe stundenlang mit Begeisterung Muskeln von den Knochen geschabt", erinnert sie sich.

Weil das Studium antiker Krankheiten – Paläopathologie oder Paläoepidemiologie genannt – noch jung war, gab es kaum Fördergelder. Die Aufderheides mussten ihre Reisen selbst bezahlen; rund 40.000 Dollar pro Jahr. "Darum wohnen wir in so einem klitzekleinen Haus", sagt Mary. Doch die Erinnerungen entschädigen sie: "Einmal haben wir einen Tampon gefunden. Er bestand aus Schilf und war in die Vagina eingeführt. Es gibt wirklich nichts Neues auf der Welt." Seit Marys Arthritis das Reisen quälend macht, beschränkt Arthur seine Arbeit weitgehend auf die Archivproben.

"90 Prozent meines Werkzeugs" – Aufderheide zieht ein Schweizer Taschenmesser aus der Hose – "sind das hier." Das Fleisch von Mumien ist so zäh, dass Skalpelle versagen. Organe sind häufig nur schwer zu erkennen. Nicht nur sind sie fast durchgehend braun und ledrig, sondern sie haben sich über die Jahrhunderte auch oft weit von ihrer normalen Position wegbewegt. Einmal fand Aufderheide eine Leber in der Brust. Er zeigt ein anderes seiner Geräte, einen weißen Plastiklöffel. "Damit klaube ich mumifizierten Kot aus dem Darm."

Die Wurzeln der Paläopathologie reichen zurück zum Anfang des 20. Jahrhunderts, als ein Brite namens Marc Armand Ruffer Hunderte Mumien untersuchte, die vor dem Bau des Assuan-Staudammes aus umliegenden Tälern geborgen wurden. Ruffer fand Mumien mit Bilharziose, Parodontose und Arterienverkalkung. "Nach ihm allerdings hat sich jahrzehntelang so gut wie nichts getan", sagt Aufderheide.

Anders als Ruffer kann Aufderheide heute die DNA-Reste erforschen, die auch nach Jahrtausenden noch im Gewebe zu finden sind. Auf diese Weise konnte er nachweisen, dass der Parasit Trypanosoma cruzi, der zu Herzversagen führen kann und noch heute mehr als zehn Millionen Lateinamerikaner plagt, bereits vor 9000 Jahren Menschen befallen hat. Dieser Tage studiert er die prähistorische Verbreitung von Malaria und versucht, die biochemische Gewebeanalyse noch einen Schritt weiterzutreiben. Gemeinsam mit seinem Kollegen Wilmar Salo sucht er ein Verfahren, mit dem er nicht mehr nach der DNA der Krankheitserreger suchen muss, sondern direkt die Antikörper und Antigene aus dem Mumienfleisch extrahieren und identifizieren kann – das Äquivalent einer Krankenakte, gelesen nach Jahrtausenden.

Wenn Aufderheide mit einer Autopsie fertig ist, sind von dem Körper gewöhnlich nur Knochen- und Gewebebrocken übrig. Für viele ist das ein Sakrileg. "Als würde man eine Ming-Vase zerschmettern, um zu sehen, wie sie produziert wurde", schreibt die amerikanische Journalistin Heather Pringle in ihrem Buch Der Mumienkongress.

"Es gibt keine Alternative", sagt Aufderheide. Zwar können Computer- und Kernspintomografen helfen, Geschlecht und Alter einer Mumie zu bestimmen. Doch weil ihre Technik auf dem Wassergehalt und den Dichteunterschieden der Organe beruht, spürten sie keine subtilen Gewebeveränderungen auf. Ohnehin würden viele Mumien nie in einem Museum landen. "Ein einziger Friedhof in Peru birgt 150 bis 200 Mumien. Kein Museum kann das bewältigen."

Sein schönstes Exponat zeigt Aufderheide am Schluss: ein Herz, von dem kaum mehr als die braune Hülle übrig ist. Aufderheide schiebt sie vorsichtig mit dem Finger auseinander. Wo vor 2000 Jahren das Blut pulsierte, klafft heute ein Loch. Nur das Bindegewebe ist noch zu sehen, dünn wie ein Blattgerippe. Behutsam stellt Aufderheide die Schachtel wieder zurück ins Regal.

Er selbst will sich nicht dem Schicksal der Verwesung fügen. Er möchte eingeäschert werden: "Das ist das Einfachste."

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