Lange hatten sie geschwiegen, die steinernen Schädel von Veracruz. In Basalt gemeißelte Köpfe aus den Sümpfen der mexikanischen Atlantikküste, die aus pupillenlosen Augen starren, mit fest verschlossenen Schmollmündern, sie waren die ersten Boten von den Olmeken, der amerikanischen Urzivilisation. Jetzt bekommen sie eine Stimme: Archäologen haben in Veracruz einen mit Zeichen behauenen Steinblock gefunden, den sie in die Zeit der kolossalen Basaltköpfe datieren, auf etwa 900 vor Christus. »Es ist das erste eindeutige Beispiel olmekischer Schrift«, sagt Michael Coe, Schriftexperte an der Yale University und Mitautor des Fachartikels, der den Fund beschreibt (Science, Bd. 313, S. 1610). Es wären die ältesten bekannten Schriftzeichen des ganzen Kontinents. Der Schriftblock von Cascajal trägt 64 Zeichen, vermutlich von links nach rechts geschrieben. Normalerweise liefen die Schriften der alten Mittelamerikaner von oben nach unten. BILD

Die Serpentinstein-Platte stammt aus einer Schottergrube beim Dorf Cascajal (»Kiesplatz«), in der jahrelang gleichzeitig Archäologen nach Resten der Antike suchten und Bautrupps sich mit Füllmaterial für Straßenfundamente versorgten. Zunächst landete sie beim Abraum. Im Jahr 1999, als Arbeiter beim Aufräumen auf Keramikscherben und Tonfiguren stießen, wurden die lokalen Behörden aufmerksam und alarmierten die Archäologen des Instituto Nacional de Antropología e Historia (INAH) in der Hauptstadt Mexiko. Seither liegt der unscheinbare, etwa DIN-A4-große Stein im Haus eines lokalen Beamten.

Markiert er womöglich den Abschluss einer langen archäologischen Großfahndung? Seit sieben Jahrzehnten durchwühlen Forscher die Stätten der Olmeken nach Schriftlichem. Vergeblich. Vor vier Jahren deutete Mary Pohl von der Florida State University die grafischen Motive olmekischer Rollsiegel und Jadeschnitzereien zumindest als Vorläufer eines Schriftsystems. Die meisten ihrer Kollegen hingegen erkennen darin bloß Bilder. Vor dem Fund von Cascajal stammten die frühesten unzweifelhaften Schriftzeichen im Gebiet der Olmeken aus der Mitte des 1. Jahrtausends vor Christus – ihre Kultur war damals schon versunken. Und so hatte sich in manchem ihrer Erforscher schon die Vorstellung einer analphabetischen Zivilisation verfestigt. »Ich hätte erwartet, dass die Olmeken zu jener Zeit überhaupt nicht geschrieben haben«, sagt Hanns Prem, Professor emeritus für Altamerikanistik an der Universität Bonn. Es wäre nicht das erste Beispiel einer schreibfaulen Hochkultur in der Gegend: Die Inkas bauten ihr Riesenreich komplett ohne Schrift, die Mayas schrieben nur für feierliche Anlässe, nicht für den Alltag.

Der Stein von Cascajal ist so einzigartig, seine Fundgeschichte so abenteuerlich, dass manche Experten zweifeln. »Spektakuläre Entdeckungen, die derart aus dem archäologischen Kontext gerissen sind, haben sich nicht selten als Fälschung erwiesen«, sagt Prem. Er fragt sich, warum man den Fund nicht ins INAH gebracht habe, warum er nicht physikalisch analysiert worden sei: »Die Überschrift des Science-Artikels, ›Älteste Schrift der Neuen Welt‹, müsste zumindest ein Fragezeichen tragen.« BILD

Die Dickköpfe an der Landenge von Tehuantepec wären sicherlich schlau genug gewesen, um sich selbstständig das Schreiben beizubringen. Sie bauten die ersten bekannten Städte der Neuen Welt, errichteten das früheste bekannte Großreich des Kontinents, schufen feinsten Jadeschmuck und leisteten die Vorarbeit für die ausgeklügelten Kalender der Maya. »Hier wurde alles erfunden«, sagt der Yale-Anthropologe Coe. Bei der Erfindung der Schrift haben die Olmeken offenbar mehrere Evolutionsstufen übersprungen: Aus dem überschaubaren Inventar von 28 sich wiederholenden Zeichen schließen Coe und Kollegen, die einzig bekannte alphabetische Schrift amerikanischen Ursprungs vor sich zu haben – alle anderen sind Silben- oder Wortschriften.

Das Fazit würde die sonst übliche Entwicklungsgeschichte von Schriftsystemen, die bei Wortschriften beginnt und bei Alphabeten endet, auf den Kopf stellen. »Das wäre eine wissenschaftliche Sensation«, sagt der Bonner Altamerikanist Nikolai Grube und mag noch nicht endgültig an sie glauben. Im Gegenteil, die häufigen Zeichenwiederholungen wecken bei ihm eher den Verdacht, dass es sich um eine bloße Inventarliste handelt, nicht um einen Text. Coe und Kollegen hingegen glauben, in der Abfolge der Zeichen eine Versstruktur erkennen zu können. Ein Gedicht etwa? Klarheit könnten nur weitere Funde schaffen.

Aber auch wenn verwandte Schriftproben auftauchen würden – wohl niemand mehr wird je den Stein von Cascajal lesen können. »Da bin ich ziemlich pessimistisch«, sagt Michael Coe. Bei der Entzifferung anderer antiker Schriften, etwa bei den ägyptischen Hieroglyphen und der Mayaschrift, verfügten die Forscher über mehrsprachige Übersetzungshilfen wie die berühmte Rosetta-Stele. Beim Stein von Cascajal hofft man auf einen solchen Fingerzeig wohl vergeblich. »Ich würde wetten, dass es zu olmekischen Zeiten nur ein einziges Schriftsystem gab«, sagt Coe. »Es starb aus, ohne Nachkommen hinterlassen zu haben.«