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Archäologie Ältestes Schriftstück Amerikas entdeckt

Eine Steintafel aus Mexiko trägt die ältesten bisher entdeckten Schriftzeichen Amerikas. Der Text stammt aus der Olmeken-Kultur und dürfte fast 3000 Jahre alt sein. Eine Sensation, meinen Wissenschaftler.
Von Andreas Kohler

Von vorne betrachtet hat der Steinblock ungefähr die Ausmaße eines modernen Schreibblocks im A4-Format. Er ist allerdings deutlich dicker und wiegt etwa zwölf Kilo. Nach heutigen Vorstellungen nicht sehr praktisch, um darauf etwas niederzuschreiben. Aber genau dazu hat der Steinklotz gedient: beim Volk der Olmeken im heutigen Mexiko vor fast 3000 Jahren.

Aufgetaucht ist der sogenannte Cascajal-Stein bereits Ende der neunziger Jahre in einer Schottergrube. Ein Team um die Wissenschaftlerin Carmen Rodriguez Martinez vom mexikanischen Centro del Instituto de Antropología e Historia hat ihn jetzt untersucht und die Ergebnisse in der Wissenschaftszeitschrift "Science" veröffentlicht.

Die Erkenntnisse gelten in Fachkreisen als handfeste Sensation: Offensichtlich handelt es sich hier um das älteste Zeugnis von Schriftkultur auf dem amerikanischen Kontinent. Aufgrund von Scherben und Teilen von Lehmfigürchen, die zusammen mit dem Steinblock zutage gefördert wurden, haben die Forscher ihn in die sogenannte San-Lorenzo-Epoche auf etwa 900 vor Christus datiert.

Bisher war die Wissenschaft davon ausgegangen, dass die ersten Schriftzeichen in diesem Teil der Welt erst rund 400 Jahre später entstanden sind. Dem amerikanischen Anthropologen Stephen Houston, der an der Studie mitgearbeitet hat, ließ der Fund nach eigener Aussage "den Kiefer nach unten klappen". Er hebe die Olmeken-Kultur auf ein ganz neues Niveau: "Wir betrachten möglicherweise das Aufblitzen eines frühen Imperiums."

Maisbauern und Steinkünstler

Bislang hatte die Archäologie den Olmeken die Schriftkultur nicht zugetraut: Lange vor der Blütezeit der bekannterweise schreibenden Maya und der Atzteken lebte das Indianervolk in Mittelamerika. Ab etwa 1200 vor Christus hinterließen die Olmeken Zeugnisse ihrer Zivilisation, bevor sich ihre Spuren um 400 vor Christus wieder verloren. Die frühen Amerikaner betrieben intensiven Maisanbau und sind bekannt für ihre Steinbearbeitung. Ob die vielen Zeichen, die sie auf diesen Steinen hinterließen, schon Schriftcharakter hatten, darüber war sich die Wissenschaft bisher uneinig.

Bei den jetzt gefundenen Symbolen besteht kein Zweifel mehr, dass es sich um echte Schrift handelt. Der Text auf der Platte umfasst insgesamt 62 Zeichen, von denen sich einige mehrfach wiederholen. Die Zeichen scheinen standardisiert zu sein und sind in wort- oder satzähnlichen Gruppen angeordnet. Unter anderem deswegen sind sich die Forscher sicher: Es handelt sich wirklich um eine Schrift, nicht etwa nur um Bildchen. Wie Fische, Insekten oder Maiskolben sehen einzelne der Zeichen aus. Nach Ansicht der Wissenschaftler könnte ihre paarweise Anordnung auf einen poetischen Text hindeuten. Entschlüsselt haben die Archäologen den Text aber noch nicht. Das könnte vielleicht gelingen, wenn noch weitere Schriftzeichen auftauchen.

Neues Verständnis der Olmeken-Kultur

Möglicherweise bilde dieser Fund "die Spitze eines Eisberges" von schriftlicher Überlieferung in dieser Region und Zeit, meint Nikolai Grube, Ethnologe und Altamerikanist an der Universität Bonn. Viele Schriftstücke seien möglicherweise auf vergänglicheren Materialien verfasst und daher zerstört worden. Auch Grube hält die Steintafel für eine "ganz große Sensation": Das Verständnis der Olmeken-Kultur verändere sich damit radikal: "Wir können jetzt davon ausgehen, dass die Schrift auf dem amerikanischen Kontinent ihren Anfang an der mexikanischen Golfküste nahm."

Schreibende Menschen in Amerika im Jahr 900 vor Christus - ungefähr in diese Zeit fallen auch erste schriftliche Zeugnisse in Europa. In der alten Welt sind allerdings bereits Texte aus dem dritten und vierten vorchristlichen Jahrtausend bekannt, die im nordafrikanischen Ägypten und im asiatischen Zweistromland abgefasst wurden. Warum begannen die frühen Amerikaner erst später zu schreiben? Das könnte damit zu tun haben, dass der amerikanische Kontinent wohl erst lange nach Asien, Europa und Nordafrika vom modernen Menschen besiedelt wurde, meint Grube. Vielleicht werden in Zukunft aber auch noch frühere Schriftbelege gefunden.

Ausradierte Schriftzeichen

Noch streitet die Wissenschaft, ob die Tafel wirklich aus der sogenannten San-Lorenzo-Phase stammt oder doch erst ein paar hundert Jahre später beschriftet wurde. Der Sensation des Fundes würde das keinen Abbruch tun: Schon allein die Tatsache, dass es sich um ein völlig neues System handele, das offensichtlich nicht verwandt mit anderen bekannten Schriften ist, zeige die Bedeutung des Cascajal-Steins, so Grube.

Eine Tatsache verblüfft die Wissenschaft besonders: Fünf Seiten des beschriebenen Steinblocks sind nach außen gekrümmt, nur die beschriebene Seite nach innen. Das könnte nach Ansicht der Forscher bedeuten, dass der Stein mehrfach bearbeitet worden ist und einzelne Schriftzeichen quasi ausradiert und dann neu graviert wurden - eine Entdeckung, die man so noch nie gemacht habe und die eher ungewöhnlich scheint, vor der Erfindung des modernen Schreibblocks.