Die Fremde ist uns erst bekannt geworden, seit sie fort ist. Susanne Osthoff, geboren 1962 in München, aufgewachsen in Oberbayern, zwischen Ebersberger Wäldern und Rosenheimer Feldern, ist am 25. November entführt worden. Das ist im Irak geschehen, der von Oberbayern sehr weit entfernt ist, Frau Osthoff aber ganz nah war. Da sind diese Bilder im Fernsehen, auf denen sie immer wieder zu sehen ist: Eine Archäologin bei der Arbeit, ihre schmale Gestalt im schwarzen Kittel, das strenge Gesicht in einen schwarzen Schal gehüllt, gegen den Wind und die Sonne, zwischen Ruinen und Trümmern und zwischen bärtigen Männern in Kitteln, mit Schaufeln und Tüchern, Anweisungen gebend. Diese schwarz gekleidete Frau aus Oberbayern also eigentlich allein in Sand und Wind und gelber Weite der irakischen Wüste.

Nach allem, was man von Susanne Osthoff weiß, muss sie da glücklich gewesen sein. Aber man weiß nicht viel. Es ist das erste Mal, dass eine Deutsche zum Opfer der im Irak häufig gewordenen Entführungen geworden ist. Es heißt nun, der Terror habe auch »uns« eingeholt. Doch wenn man sich eine Weile mit Susanne Osthoff beschäftigt, merkt man, dass sie sich von »uns« schon lange gelöst hatte.

Sie war abhanden gekommen, bevor sie entführt wurde.

Der Himmel, wolkenlos und blau. Die Schindeln der Dächer, schwarz und kalt. Die Felder, braun und ruhend. Alles weit und still. Hier liegt Rott am Inn, dort hinten, nach Westen hin, die Ortschaft Glonn und im Norden die Gemeinde Grafing. Aus diesem Dreieck ist Susanne Osthoff verschwunden. Sie verlor sich über Jahre, anfangs unmerklich, doch jetzt ist nichts als Ratlosigkeit geblieben. Es macht ratlos, dass Susanne Osthoff, die den Irak kannte und die Gefahren, die er birgt, sich nicht längst in Sicherheit gebracht hatte – dorthin, was die Menschen hier »Heimat« nennen. Es macht ratlos, dass sie in Bayern ihre Tochter zurückließ, ein Kind von zwölf Jahren. Aber es macht auch ratlos, dass im Land der Entführten nicht Zehntausende auf die Straße gehen, wie es in Frankreich oder Italien war.

Da sitzt sie in Oberbayern, und das Fernweh zerrt an ihr

Aufgewachsen ist sie in Grafing. Mit 18 von zu Hause weg nach Glonn, ein schöner Ort, aufgeklärt, mit einem sozialdemokratischen Bürgermeister. Susanne Osthoff hat drei Geschwister, doch sie ist das einzige Kind, das Abitur macht. Der Vater war Bohrwerksdreher. »Den Beruf gibt’s heut gar nicht mehr«, sagt Günther Hala, der Stiefvater. »Den gibt’s schon noch«, sagt Ingrid Hala, die Mutter. »Na«, sagt Herr Hala, »das machen heute alles die Computer … aber ich will den jetzt nicht schlecht machen, den Mann.« Susannes Vater ist nämlich schon tot, seit acht Jahren, Hirnschlag mit 65. Es heißt, er habe Leute nicht gemocht, die studiert hatten. Susannes ältere Brüder hätten darum nur Hauptschule machen dürfen. Und nachdem Susanne auf dem Gymnasium war, durfte das jüngste Kind nicht mehr. Also Realschule für ihre Schwester Anja.

Sie haben sich irgendwann getrennt, die Eltern: Vater Osthoff hat sich eine Frau genommen, die keine Fragen stellte. Und Mutter Osthoff, die ihr Leben lang in Büros tätig war, bei der Staatsanwaltschaft, bei der Kriminalpolizei, im Krankenhaus, hat sich einen gesucht, der besser zu ihr passte: den Meteorologen Hala, der nicht nur ein stattlicher Kerl war, sondern auch studiert hatte. Ein Wissenschaftler. Hala weiß um die Vorbilder von Susanne: die Engländerin Freya Stark und die Schweizerin Isabelle Eberhardt, die das Genre der »alleinreisenden Frau« erfunden haben, verkleidet als Männer, unterwegs im Orient. Und auch den deutschen Fotografen Hans Helfritz. Allesamt eher Abenteurer, Schriftsteller, Reisende und weniger Forscher. Susanne Osthoff hat während des Studiums von ihnen erfahren. Stiefvater Hala ist Naturwissenschaftler. Der Orient? Lässt ihn kalt. Aber Susanne nicht. Wer weiß, woher das kommt, dass da eine in Oberbayern sitzt, und die Weite zieht ihr in der Brust. Ihr Bruder Robert, der Zimmermann, hat einen Sohn mit einer Frau aus Thailand. »So ein hübscher Junge«, sagt Ingrid Hala, »er spricht Thailändisch und Bayerisch.« Schwester Anja macht sonderbare Musik, sie hat das Tibetische Totenbuch vertont, und wenn man sie in ihrer Einzimmerwohnung in München-Ebenau nach ihren Träumen fragt, erzählt sie von den sanftmütigen Menschen in den waldigen Tälern des Königreichs Bhutan.